Oma Silberzwiebel erzählt

Legenden und Geschichten aus Aequipondium

(c) veggiewombat auf Pixabay

Über die Zwiebeldachse

Es war der Abend eines heißen Spätsommertages. Der Himmel wechselte langsam von violett in ein tiefes dunkles Blau, während die drückende Hitze des Tages angenehmeren Temperaturen wich.

Oma Silberzwiebel hatte es sich unter dem großen Baum im Garten bequem gemacht, während ihre Enkelkinder Augusta und Engerling im Riesenrübenbeet nach Würmern gruben. Mutter Schalotte steckte ihren Kopf aus der kleinen hölzernen Hütte, die der Dachsfamilie als Zuhause diente.

„Kommt, Kinder. Hört auf zu naschen, wascht euch die Pfoten und kommt zum Abendessen.“

Schalotte schüttelte missbilligend den Kopf, als sie sah, wie ihre kleine Tochter Augusta sich noch rasch zwei dicke weiße Käferlarven in den Mund stopfte. Erst dann eilte sie ihrem Bruder hinterher, um sich an der Regentonne die Pfoten und das Gesichtsfell zu waschen.

Schalotte hatte bereits einen Krug mit kühlem Saft und einige Becher zum Gartentisch getragen. Jetzt drückte sie Engerling ein paar Löffel und Augusta einige Holzteller in die Hände. Den noch warmen, duftenden Riesenapfelkuchen trug sie selbst. Als alle um den Gartentisch versammelt waren, verteilte Schalotte den Kuchen.

Dabei sagte sie: „Eigentlich hatte ich gehofft, du hilfst mir dabei, den Riesenapfel zu spalten, Augusta. Stattdessen schlägst du dir den Bauch mit Käfern voll.“

Die kleine Dächsin ließ schuldbewusst den Kopf hängen.

„Lass sie doch“, mischte sich Oma Silberzwiebel ein. „Sie interessiert sich eben noch nicht dafür.“

Schalotte schnaufte. „Aber es wird Zeit, dass sie Kochen lernt, wie es sich für einen ordentlichen Zwiebeldachs gehört.“

„Aber ich kein ordentlicher Zwiebeldachs sein will!“ verkündete Augusta plötzlich. „Außerdem ist ungerecht. Engerling muss nie in Küche arbeiten. Dabei er ist genauso Zwiebeldachs, wie ich!“

Schalotte schnaufte. „Sprich ordentlich! Und Engerling muss nicht in der Küche arbeiten, weil er kein Zwiebeldachs ist!“

Die Augen der kleinen Augusta wurden groß und rund, während sie verunsichert zwischen ihrer Mutter und ihrem Bruder hin und her schaute. „Kein Zwiebeldachs?“ fragte sie.

„Natürlich nicht! Er ist ein Käferdachs.“

Oma Silberzwiebel betrachtete ihre Enkelin, die immer noch ungläubig ihren Bruder anschaute. Engerling hingegen schlang seinen Riesenapfelkuchen herunter, als würde ihn das alles überhaupt nichts angehen.

„Du gewusst?“ murmelte Augusta ihm zu.

„Nö.“ Die Tatsache, dass er kein Zwiebeldachs war, schien ihren Bruder kein bisschen zu verunsichern. Er zuckte nur mit den Schultern und aß weiter.

„Typisch Käferdachs,“ stellte Oma Silberzwiebel fest. Dann wandte sie sich mit einem Lächeln an Augusta. „Aber, wenn du wirklich nicht weißt, warum dein Bruder kein Zwiebeldachs ist, dann muss ich dir wohl etwas darüber erzählen.“

Mutter Schalotte seufzte. „Muss das heute Abend sein? Ich bin nach dem heißen Tag furchtbar erschöpft.“

Silberzwiebel warf ihr einen ernsten Blick zu. „Ja. Ich finde, es sollte gleich heute sein. Und wenn du zu müde bist, dann bring mir einfach einen Becher Apfelwein und geh schlafen. Meine beiden Enkel und ich werden die Nacht auch ohne dich überstehen.“

Schalotte grunzte. Sie schien einen Moment mit sich zu ringen. Doch dann sammelte sie die leeren Teller ein und machte sich auf den Weg in die Hütte. „Komm mit, Augusta“, rief sie über die Schulter. „Du kannst den Wein für deine Oma rausbringen und mir dann rasch beim Abwasch helfen. Danach ist immer noch genug Zeit für Oma Silberzwiebels Märchenstunde.“

Bis Augusta fertig war, war es Nacht geworden. Sterne funkelten am Himmel und ein paar Nachtfalter flatterten träge durch den Garten. Natürlich hatte ihr Bruder in der Zwischenzeit den Rest vom Kuchen aufgegessen. Die große Motte, die sie geschickt aus der Luft fing, musste ihr eben reichen.

Oma Silberzwiebel schien mit dem Weinbecher in der Hand eingeschlafen zu sein. Schon wollte Augusta enttäuscht zurück ins Haus gehen, da rührte sich die alte Dächsin.

„Augusta? Sei so gut und hol mir noch einen Becher Wein. Dann kann die Geschichte losgehen.“

Eilig tat die kleine Dächsin, worum ihre Oma sie gebeten hatte, auch wenn sie fand, Silberzwiebel hätte genauso gut ihren Bruder bitten können, der sich seit dem Abendessen nicht von der Stelle gerührt hatte.

Als Oma von ihrem Apfelwein genippt und sich mit einem wohligen Seufzer zurückgelehnt hatte, begann sie zu erzählen.

„Es war einmal zu einer Zeit, als meine Großmutter noch eine junge Dächsin war.“

„War sie Zwiebeldachs?“ fragte Augusta neugierig.

„Oh ja“, antwortete Silberzwiebel. Dann musterte sie ihre Enkelin nachdenklich. „Vielleicht sollte ich es doch anders erklären. – Welche Dachsfamilien kennst du?“

Die kleine Dächsin kniff die Augen zusammen, während sie überlegte. „Zwiebeldachse und Sellerdachse“, sagte sie. „Und die alte Frau Pastinak.“

„Und du Engerling?“

Augustas Bruder schaute überrascht auf. „Na die gleichen. Und Hirschkäfer.“

Silberzwiebel nickte. „Stimmt. Du hast deinen Vater vergessen, Augusta.“

„Den habe ich ja auch noch nie gesehen,“ murmelte sie.

„Fällt dir was auf, wenn du so an die ganzen Namen denkst? Wer gehört bei den einzelnen Familien dazu.“

Augusta kaute nachdenklich an ihrer Pfote herum. „Warum nicht einfach Geschichte erzählen?“ fragte sie hoffnungsvoll. Doch als ihre Oma den Kopf schüttelte, ergänzte sie missmutig: „Alles Mädchen.“

„Was?“

„Alle Dachse Mädchen. Seller-Mädchen, Zwiebel-Mädchen und Frau Pastinak. Nur Engerling nicht. Und Papa.“

Oma Silberzwiebel strahlte. „Siehst du? Ich brauch die Geschichte gar nicht zu erzählen. Du bist ganz von allein drauf gekommen. Alle sesshaften Dachsfamilien bestehen nur aus Dachs-Weibchen. Du hast übrigens die Rübendachse vergessen, die in den Bergen wohnen. Aber auch dort gibt es nur Mutter Rübe, ihre beiden Töchter und Tante Runkelrübe. – Fällt dir noch etwas auf?“

„Alle Familien Gemüse?“

„Richtig. Zwiebeln, Sellerie, Pastinaken und Rüben. Denn wir sind wie das Gemüse. Sesshaft und verlässlich. Und Wurzeln sind gut.“

„Und Engerling?“

„Die männlichen Dachse sind immer auf Wanderschaft. Deshalb tragen sie Tiernamen. Ihre Eltern wählen dafür gern einen echten Leckerbissen oder eine stattliche Beute. Dein Vater Hirschkäfer zum Beispiel war ein richtiger Draufgänger.“

„Und Opa?“

Oma Silberzwiebels Augen glänzten melancholisch im Mondlicht. „Dein Großvater Regenwurm war ein wunderbarer Dachs. Unglaublich fürsorglich, hat immer etwas zu essen heimgebracht, wenn er uns einmal besuchte. Und er hatte diese wunderbare Speckschicht um seine Mitte.“

Eine Weile war nichts zu hören, als der Wind, der leise die Blätter des großen Baumes bewegte, unter dem die drei Dachse saßen. Dann sagte Engerling plötzlich:

„Also hat Mama recht: Augusta sollte viel mehr in der Küche arbeiten und nicht dauernd mit diesem Willi Wildschwein im Wald rumstromern.“

Augusta fauchte. Und gleich hätten sich die beiden Jungdachse in eine ihrer berüchtigten Kabbeleien gestürzt. Doch Oma Silberzwiebel legte der kleinen Augusta eine beruhigende Pfote auf den Kopf.

„Vielleicht“, gab sie zu. „Aber ich glaube, sie kommt einfach ein wenig nach ihrer Urgroßtante Ottilie Frühlingszwiebel. Die wollte auch immer die Welt entdecken. Das sind die Grillen in ihr, haben wir immer gesagt. Wahrscheinlich stimmte es. Uropa Grille war auch ziemlich verrückt.“

„Erzählst du uns von ihr? Von Tante Ottilie?“ bettelte Augusta.

Silberzwiebel lächelte. „Ein andermal“, versprach sie.

** Ende **