Kapitel 3
Während Darren bei seiner Großmutter war, hatte sich eine dunkle Wolkenfront über den Inseln im Westen zusammengeballt. Und als er am Abend gegen halb zehn vor ihrem Häuschen ins Auto stieg, fielen bereits die ersten Regentropfen. Die Fahrt zurück nach Oban war zum Glück kurz, denn der böige Wind, der den Regen begleitete, rüttelte unangenehm am Fahrzeug und brachte Darren mehr als einmal dazu, in Schlangenlinien zu fahren. An einigen Stellen, an denen die schmale Küstenstraße besonders nahe am Wasser verlief, spritzte die Gischt so hoch, dass Darren auch ohne den Regen seine Scheibenwischer hätte einschalten müssen. Wäre das Wetter noch schlimmer, hätte er die längere Route über die Hauptstraße nehmen müssen. Die verlief ein paar Kilometer landeinwärts und war daher besser geschützt. Nur während der berüchtigten Winterstürme konnte es vorkommen, dass sogar diese Straße gesperrt wurde.
In Oban hielt sich der Verkehr um diese Tageszeit in Grenzen, sodass Darren bald darauf auf den Mitarbeiterparkplatz hinter dem Taigh Dubh Guesthouse einbiegen konnte. Obwohl es nur wenige Schritte vom Parkplatz bis zum Eingang des Gästehauses waren, war Darren nass bis auf die Haut, bis er es in die Eingangshalle geschafft hatte.
Er musste sich mit der Schulter gegen die schwere Holztür stemmen, um sie trotz des starken Windes zu schließen. Als er das geschafft hatte, schüttelte er sich wie ein Hund, um zumindest einen Teil des Wassers aus seinen Haaren zu bekommen. Im Schirmständer neben der Rezeption sah er die traurigen Überreste von zwei oder drei sturmzerzausten Regenschirmen stehen. So genau ließ sich das nicht mehr sagen. Daneben hatte sich eine kleine Wasserlache auf dem gefliesten Boden gebildet.
Dass es die Touristen nie lernten, dachte er kopfschüttelnd. Man sollte meinen, Leute, die an die schottische Küste fuhren, wussten, mit welchem Wetter hier zu rechnen war.
Oben in seinem Zimmer schnappte sich Darren ein Handtuch und rubbelte sich erst einmal das restliche Wasser aus den kurzen rotbraunen Haaren. Er zog sich das nasse Sweatshirt über den Kopf und warf es achtlos auf den Sessel. Dann ließ er sich auf sein Bett fallen und schaltete den Fernseher ein. Etwas lustlos zappte er durch die Kanäle und überlegte, ob er sich noch einen Film anschauen sollte. Aber der kleine Fernseher in seinem Zimmer bot eigentlich kein sonderlich tolles Kinofeeling. Außerdem lief ohnehin nichts Interessantes. Er schaltete den Fernseher wieder aus und schnappte sich eine der Zeitschriften, die auf seinem Nachttisch lagen.
Kaum hatte er sich im Licht der Nachttischlampe in einen Artikel vertieft, hörte er ein Geräusch.
„Psst.“
Darren schloss die Augen und atmete tief durch.
„Psssst“, machte es noch einmal. Dieses Mal mit mehr Nachdruck.
„Das geht heute nicht, Alice“, sagte er entnervt und ohne zu schauen, wo sich das Geistermädchen diesmal versteckt hielt.
„Aber es fängt gleich an. Ich will doch schon die ganze Woche wissen, wie es weitergeht. Und es ist auch keiner mehr unten.“
Darren seufzte. Er drehte sich zu dem Mädchen um. Sie hatte sich in der dunkelsten Zimmerecke zwischen dem Kleiderschrank und der Tür versteckt und schaute vorwurfsvoll zu ihm rüber. Alice hatte ein ausgezehrtes, blasses Gesicht, das von langen, mit weißen Stoffstreifen zusammengebundenen Zöpfen umrahmt wurde. Sie trug ein unförmiges weißes Nachthemd, das fast bis auf ihre nackten Füße reichte. Die riesigen dunkelbraunen Augen in ihrem schmalen Gesicht ließen sie aussehen, als sei sie höchstens elf oder zwölf Jahre alt. Dass sie Darren gerade bis zur Brust reichte, verstärkte diesen Eindruck noch. Trotzdem könnte sie leicht fünfzehn oder mehr Jahre alt gewesen sein, als sie an der Schwindsucht starb. Genau wusste Darren es nicht. Nur, dass Tuberkulose im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert eine ziemlich häufige Todesursache war. Ganz besonders bei der ärmeren Bevölkerung. Ob Alice als Hausmädchen in Taigh Dubh House gearbeitet hatte oder die Tochter einer der Angestellten war, wusste Darren nicht. Wahrscheinlich sollte er sie irgendwann danach fragen. Aber heute hatte er garantiert keine Lust mehr dazu.
Darren warf Alice einen strengen Blick zu. „Du weißt doch, dass die Argyll Ghost Company im Haus ist“, erklärte er geduldig. „Denkst du wirklich, da sollte ein Geist wie du im Gemeinschaftsraum herumsitzen und fernsehen?“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern und zog eine Schnuppe. „Tu nicht so, als könnten die mich sehen oder sonst irgendwie aufspüren.“
Dazu konnte Darren nicht viel sagen. Immerhin hatte er es selbst ausprobiert. Er ließ Alice gelegentlich in der Nacht ein paar Stunden fernsehen, dafür gestattete sie ihm, Experimente zum Nachweis ihrer geisterhaften Existenz zu machen.
Und er hatte alles versucht: Fotos, Tonaufnahmen, Temperaturmessung. Er hatte sogar ein Messgerät für elektromagnetische Felder verwendet, das er sich eigens für diesen Zweck beschafft hatte. Doch mit keinem hatte er eine Spur von Alice‘ Anwesenheit aufzeichnen können, obwohl er sich bei dem EMF-Messgerät einige Hoffnungen gemacht hatte.
„Und wenn sie ein Gerät verwenden, dass ich noch nicht ausprobiert habe? Oder wenn jemand dabei ist, der wie ich Geister sehen kann?“, fragte er.
Alice zuckte mit den Schultern. „Bestimmt nicht. Und warum hätte es jemand, der Geister sieht, überhaupt nötig, eine Geistertour zu buchen? Außerdem habe ich in den letzten hundert Jahren außer dir nur eine einzige Geisterseherin getroffen. Und die wurde von allen für verrückt gehalten.“
Darren gab auf. Er wusste aus Erfahrung, wenn er nicht klein beigab, würde ihn das Geistermädchen die ganze Nacht wach halten. Wenn er nur bei ihrer ersten Begegnung rechtzeitig gemerkt hätte, dass sie ein Geist war! Wenn er sich nicht hätte anmerken lassen, dass er sie sehen konnte, dann hätte er jetzt vielleicht seine Ruhe. Aber in der Dunkelheit sahen Geister für ihn eben ziemlich solide aus.
„Also gut. Wie wäre es dann, wenn du heute ausnahmsweise hier oben bei mir fernsiehst. Ich habe keine Lust, jemandem zu erklären, dass im Salon der Fernseher läuft, weil der Hausgeist unbedingt ‚Britain’s got Talent‘ sehen will.“
Alice beäugte den winzigen Röhrenbildschirm, der auf einem Tischchen in der Ecke stand, skeptisch. Der Fernseher im Aufenthaltsraum war ein moderner Flachbildschirm mit mindestens einem Meter zwanzig Bilddiagonale. Außerdem gab es dort unten auch ordentlichen Surround-Sound.
„Dafür schaltet dir hier keiner mitten im Film auf die Nachrichten“, argumentierte er.
„Na gut.“ Grinsend wie die Cheshire Cat hüpfte Alice auf den Sessel und blickte erwartungsvoll zu Darren.
Darren schüttelte den Kopf. Innerhalb weniger Wochen hatte sich Alice von einer schüchternen jungen Dame aus dem neunzehnten Jahrhundert, die er eines Nachts im Treppenhaus hatte herumgeistern sehen, in einen fast normalen Teenager entwickelt. Zwar hatte sie sich auch vorher hin und wieder in die Zimmer der Gäste geschlichen, doch erst seit Darrens Ankunft hatte sie die Möglichkeit, auch ganz gezielt bestimmte Sendungen im Fernsehen zu schauen oder Fragen zu den seltsamen Dingen zu stellen, die sie dabei entdeckte. Er fragte sich, was es wohl für ihr Leben als Geist bedeutete, dass sie sich so verändert hatte.
Mühsam hievte er sich aus dem Bett und tapste zum Fernseher. Darren schaltete das Gerät ein und drehte den Ton ab. Dann aktivierte er die Untertitel und den Sleeptimer.
„Eine Stunde“, sagte er.
Alice sah ihn entrüstet an. „Was soll das bitte ohne Ton bringen? Das ist immerhin eine Talentshow!“ Sie deutete auf den Bildschirm, auf dem gerade eine Bühne zu sehen war, auf der sich der nächste Act für seinen Auftritt bereitmachte.
Darren seufzte und drehte den Ton so weit auf, dass die Musik gerade einigermaßen zu hören war. „Aber dafür sehe und höre ich in den nächsten zwei Tagen keinen Mucks mehr von dir.“
Alice nickte enthusiastisch. Dann wandte sie sich dem Fernsehprogramm zu.
Kopfschüttelnd ging Darren zurück zu seinem Bett und der aktuellen Ausgabe des Haunted Magazine. Die hatte er sich nämlich in Vorbereitung auf das Geisterwochenende extra besorgt.
„Darren! Wach! AUF!“
Der schrille Schrei schien direkt neben Darrens Ohr zu erklingen. Eigentlich war es sogar beinahe so, als schreie jemand in seinem Kopf. Erschreckt fuhr er auf und musste sich dann erst einmal orientieren. Zu dem unangenehmen Gefühl, plötzlich aus dem Tiefschlaf gerissen zu werden, kam beim Aufrichten das Grausen, das einen überkam, wenn man durch einen Geist lief. Natürlich fühlte man einen Geist nicht wirklich. Es war eher wie ein eisiges, silber-blaues Kribbeln in Darrens Kopf. Auch wenn das merkwürdig klang – genau so fühlte es sich für ihn an.
Im Zimmer war es dunkel. Darren musste beim Lesen eingeschlafen sein, denn auf seinem Kopfkissen schien noch immer eine Zeitschrift zu liegen, auch wenn er sich nicht mehr daran erinnern konnte, die Nachttischlampe ausgeschaltet zu haben. Nur ein wenig Licht von den Straßenlaternen, die unten vor dem Haus standen, ermöglichte es ihm, ein paar Umrisse zu erkennen.
Darren fragte sich gerade, ob er sich den Schrei vielleicht nur eingebildet hatte. Doch dann nahm er neben seinem Bett den Umriss eines Kopfes wahr. Eines Kopfes mit zwei langen Zöpfen, einem blassen Gesicht und einem Paar riesiger dunkler Augen.
„Alice.“ Darren stöhnte und ließ sich wieder auf sein Kissen fallen. „Du hast doch versprochen, mich in Ruhe zu lassen, wenn du fernsehen darfst. Wie spät ist es überhaupt? Ist deine Sendung nicht schon lange aus?“
„Ja, schon. Aber …“ Alice verstummte.
Er tastete im Dunkeln nach seinem Handy und drückte einen Knopf. Zwei Uhr fünf stand auf dem Display. Im bläulichen Licht des Telefons sah er den Schock und die Sorge, die in den Augen des Mädchens standen.
„Was ist denn?“, fragte er schon etwas versöhnlicher.
„Da ist jemand in meinem Keller“, murmelte Alice.
„Wer denn? Ist es vielleicht jemand von der Ghost Company?“ Darren seufzte. „Ich hab dir doch gesagt, dass sich in den nächsten Tagen immer mal Gäste in deinem Keller rumtreiben werden. Sicher ist es einer von denen.“
Alice schüttelte ungeduldig den Kopf, sodass ihre Zöpfe über ihren Schultern hin und herflogen. „Das ist es ja gar nicht. Das Problem ist, dass er tot ist.“
„Wie meinst du das?“ Er runzelte die Stirn.
„Genauso, wie ich es sage: Da ist jemand in meinem Keller und der ist mausetot.“ Alice starrte ihn erwartungsvoll an.
Darren rieb sich die Augen, während er versuchte, diese Information zu verarbeiten. Irgendwie ergab das alles gerade gar keinen Sinn. „Bist du sicher, dass du dich nicht nur vor irgendwas erschreckt hast? Blake Cadger wollte seine Messgeräte dort unten aufstellen. Vielleicht ist ja nur eins davon umgefallen.“
Das Geistermädchen schenkte ihm einen Blick der Cappuccino in Eiskaffee verwandeln könnte. „Hältst du mich für doof?“
Er seufzte. „Willst du, dass ich mir das einmal ansehe?“, fragte er schließlich.
Alice schnaufte ungeduldig. „Natürlich. Was dachtest du, warum ich dich geweckt habe?“
Aus Bosheit? Weil du es für lustig hältst? Seit Darren Alice etwas besser kannte, wären ihm dazu einige Ideen eingefallen. Trotzdem schwang er jetzt einfach seine Beine aus dem Bett und begann, in der Dunkelheit nach seinen Schuhen zu tasten. Seine Hose hatte er, dank Alice früherem Besuch, ja noch an.
Das Handy als Taschenlampe benutzend stapfte Darren die mit Teppich belegte Treppe des Gästehauses herunter. Es war ziemlich dunkel, da außer der grünen nächtlichen Notbeleuchtung kein Licht mehr im Haus brannte. Im ersten Stock, in dem sich die meisten der Gästezimmer befanden, hielt Darren inne, um zu lauschen. Doch im Haus war alles ruhig. Nur Alice, die ihm gefolgt war, zappelte unruhig hinter ihm herum.
„Los, weiter“, zischte sie leise.
Gehorsam setzte er sich wieder in Bewegung.
Auch im Erdgeschoss war nichts Ungewöhnliches festzustellen. Der Zugang zum Keller befand sich hinter einer verschlossenen Tür neben der Rezeption. Zwei Schlüssel existierten für den Keller. Einer gehörte Becca, während der andere für gewöhnlich in einer kleinen Schublade in der Rezeption aufbewahrt wurde. Diesen Schlüssel hatte Darren heute Nachmittag an Blake Cadger übergeben.
Bestimmt hat er abgeschlossen, dachte Darren. Immerhin hatte der oberste Geisterjäger ja deutlich gemacht, dass er im Keller keinesfalls gestört werden wollte. Dass Darren jetzt trotzdem vorhatte, in den Keller zu gehen, hatte nur zum Teil damit zu tun, dass Alice ihm leise drohte, oben in seinem Zimmer zu warten, wenn er nicht bald weitermachte. Er verspürte auch eine Mischung von Trotz und Neugier, die ihn beinahe gegen seinen Willen in Richtung Keller zog.
Vorsichtig drückte Darren die Klinke herunter. Zu seiner Überraschung ließ sich die Tür problemlos öffnen. Im Licht seiner Handytaschenlampe stieg er langsam in die beinahe undurchdringliche Finsternis des Kellers hinab.
Du bist neugierig, wie es weitergeht?
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