Tot mit Garten – Leseprobe

Kapitel 1

Die Augen fest auf die Pflastersteine zu seinen Füßen gerichtet, ging er langsam die Straße hinunter. Es war nicht erkennbar, was er zu finden hoffte, denn der Boden sah überall gleich aus: abgetretenes Kopfsteinpflaster, das an den Seiten von einem schmalen Streifen aus Gehwegplatten begrenzt wurde. Trotzdem schien er bald die richtige Stelle gefunden zu haben. Er blieb stehen, zögerte, dann hockte er sich hin. Seinen Blick hielt er auf einen Fleck auf dem Boden geheftet. Er streckte eine Hand darüber aus, die Finger gespreizt, die Handfläche nach unten.

„Genau hier ist er gestorben“, verkündete er mit unheilschwangerer Stimme.

Seine Zuschauer beobachteten ihn stumm, während hinter ihm die üblichen Geräusche eines Samstagabends auf der Royal Mile in Edinburgh erklangen: plaudernde Touristen, lachende Pubbesucher, ein klapperndes Fahrrad, das über das Kopfsteinpflaster die Highstreet hinunterrollte.

Darren fragte sich, was seine Zuschauer wohl sahen, wenn sie auf ihn herunterblickten. Einen jungenhaften Zweiundzwanzigjährigen, der sich einen Spaß daraus machte, Touristen zu verspotten? Vermutlich nicht. Sein Chef achtete darauf, dass alle seine Guides ein seriöses, aber auch sinisteres Auftreten an den Tag legten. Schon der lange dunkle Mantel ließ die Leute glauben, einen authentischen Gentleman aus dem achtzehnten Jahrhundert zum Reiseführer zu haben. Die für seinen Auftritt sorgfältig zurückgegelten rotbraunen Haare und sein schmales, blasses Gesicht taten das Übrige.

Endlich räusperte sich jemand. Sicher einer der deutschen Touristen oder ein Engländer. Die waren immer die Ersten, die ungeduldig wurden.

„Wer war es? Ich meine, wer ist hier gestorben?“, fragte er.

Darren blickte den Sprecher an. „Ich habe keine Ahnung.“

Er stand auf und schaute in die Runde. Sein ernstes, beinahe trauriges Gesicht passte perfekt zu seiner Rolle, als er erklärte: „Überall um uns herum sind Menschen gestorben. Hunger, Krankheit und Gewalt haben viele das Leben gekostet. Männer, Frauen, auch unzählige Kinder. Die Altstadt von Edinburgh war lange Zeit einer der ärmsten und schrecklichsten Slums Europas. Noch im sieb­zehnten Jahrhundert rottete die Pest ganze Straßen­züge aus.“

Seine Zuhörer nickten ernst. Doch Darren wusste, sie waren nicht wegen einer Geschichtsstunde gekommen.

„Zum Glück, sollte ich sagen“, fuhr er fort und grinste plötzlich. Seine Augen funkelten amüsiert, als er die geschockten Gesichter seiner Zuhörer sah. „Sonst wären weder Sie noch ich heute Abend hier. Denn das alte Edinburgh ist ein düsterer und unheimlicher Ort. Ein Ort voller Geister und Gespenster.“

Nach dieser Ankündigung sahen sie nicht mehr schockiert, sondern erleichtert und erwartungsvoll aus. Ja. Das war es, weshalb sie hier waren.

„Die meisten von uns gehen durch die Stadt und sehen alte Häuser, Menschen, Pubs. Doch einige spüren es trotzdem. Einige sind empfindsam für das Übernatürliche, für die Geisterwelt und die verlorenen Seelen, die hier hausen. – Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie heute Geister sehen werden. Aber ich werde Sie in der nächsten Stunde an einige der unheimlichsten Orte in der Stadt führen, so dass Sie mit eigenen Sinnen erfahren können, wie die kalte Hand des Grauens Ihnen den Nacken entlangstreicht.“

Er schaute in die Runde. Sein spöttisches Lächeln zeigte, dass er sich über die Leute amüsierte, die nach Edinburgh kamen, um Geister zu sehen. Es lag aber auch eine Warnung in seinem Blick. Stundenlang hatte er vor dem Spiegel gestanden und geübt, bis er genau die richtige Mischung aus Einladung und Drohung erreichte. Jetzt machte es sich bezahlt. Angespannt und aufgeregt, voller Vorfreude, aber auch mit ein wenig Sorge hingen die Leute an seinen Lippen.

Er schenkte ihnen noch ein spöttisches Lächeln. Dann führte er sie hinein in die schmalen Gassen und dunklen Keller der schottischen Hauptstadt.

Als Darren knapp eine Stunde später seine Tour auf dem Greyfriars Friedhof beendete, waren alle zufrieden. Natürlich hatte keiner von ihnen einen Geist gesehen. Aber das erwartete auch niemand. Nicht bei einer öffentlichen Tour mit zwanzig anderen Teilnehmern. Trotzdem würden einige später erzählen, dass sie etwas gespürt hätten. Eine dunkle Gegenwart, die im finsteren Keller des Spukhauses nach ihnen gegriffen hatte. Die ihnen eisige Schauer über den Rücken jagte. Genau deshalb gehörten die Geistertouren seines Chefs zu den besten der Stadt.

Inzwischen hatte er alle verabschiedet. Einige hatten ihn noch um ein paar Tipps gebeten: Ein gutes Buch über die Spukhäuser Schottlands, einen gemütlichen Pub, um den Abend ausklingen zu lassen, oder was es sonst noch in Edinburgh anzuschauen gab. Jetzt stand er zufrieden grinsend an einen alten Grabstein gelehnt und zählte sein Trinkgeld. Gar nicht mal schlecht für einen Abend in der Vorsaison.

Die alte Dame hatte im Schatten des Friedhofs­wärter­häuschens gewartet, bis alle gegangen waren. Jetzt kam sie zögerlich auf Darren zu. Er erkannte sie als eine Teilnehmerin der Tour. Eine Engländerin glaubte er, auch wenn sie in der letzten Stunde kaum etwas gesagt hatte. Sie wirkte unsicher, so als wisse sie nicht genau, wie sie anfangen sollte.

Als sie ein altes Foto aus ihrer Handtasche zog, seufzte er innerlich. Er ahnte, was nun kommen würde. Es passierte immer wieder. Denk daran, was dein Chef gesagt hat, mahnte er sich selbst. Dann bereitete er sich darauf vor, die Alte zu enttäuschen. Viel Mitleid hatte er dabei nicht. Wenn sie heutzutage noch immer an Geister glaubte, war sie schließlich selbst schuld daran, dass andere über sie lachten.

Kapitel 2 

Darren verdrehte die Augen und ließ seinen Kopf gegen die Lehne des Sofas sinken. „Es war nicht meine Schuld, Ma“, beteuerte er.

Er schloss die Augen und bedauerte, dass er ihren Anruf überhaupt angenommen hatte. Andererseits: Hätte er es nicht getan, hätte sie es vermutlich jede Stunde versucht, bis er aufgab oder das Handy aus dem Fenster warf.

„Paul sagte, du hast eine Kundin beleidigt. Deshalb hat er dich rausgeworfen“, sagte seine Mutter jetzt.

„Paul hat dich angerufen? Redest du etwa mit ihm über mich?“

Darren wusste natürlich, dass sie seinen Chef kannte. Er hatte seine Mutter selbst nach Edinburgh eingeladen, um an der Geisterführung teilzunehmen, die Paul für die Angehörigen organisiert hatte. Eine Gelegenheit, die Firma zu präsentieren, hatte sein Chef gesagt. Aber dass Paul und seine Mutter sich so gut verstehen würden, damit hatte er nicht gerechnet. Sie hatten die Telefonnummern getauscht und sich ein paar Mal getroffen. Und seit Neuestem sprachen sie offenbar auch über ihn, Darren.

Seine Mutter schwieg.

Darren seufzte. „Ich hätte dir schon noch erzählt, dass ich den Job verloren habe. Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, dass Paul mich sofort verpfeift.“

Seine Mutter sagte immer noch nichts. Vermutlich gab sie ihm insgeheim recht. Schließlich seufzte sie. „Wir haben uns tatsächlich längere Zeit über dich unterhalten. Und weißt du was? Er schätzt dich. Du bist intelligent, zuverlässig und unterhaltsam. Genau, was er für seine Geistertouren braucht. Wenn du nur dein Temperament etwas besser im Griff hättest. – Was hat dich nur geritten?“

Darren schnaufte. „Ich mag Menschen. Nur solche Spinner kann ich nicht ausstehen.“

„Und was hat die Frau getan, um dich zu diesem Urteil zu bringen?“

„Anfangs hat sie mich nur nach den verschiedenen Arten von Geistern gefragt, die ich erwähnt habe, und ob ich schon einmal mit einem von ihnen gesprochen habe. Sie klang, als würde sie mich für ein verdammtes Medium halten. Aber völlig egal, was ich gesagt habe, sie wollte nicht aufhören. Am Ende verlangte sie sogar, dass ich mal mit ihrem verstorbenen Alten rede. Was glaubt die, wer ich bin? Gordon Smith?“

„Immerhin machst du Rundgänge durch die Spuk­häuser von Edinburgh. Da ist es doch kein Wunder, dass sie erwartet, dass du Geister sehen kannst.“

„Das sind Führungen für Touristen! Nichts als ein bisschen Show für ein wohliges Gruseln. Es glaubt doch kein Mensch, dass er auf so einer Tour ein echtes Gespenst sieht. Genauso wenig wie in der Geisterbahn auf dem Jahrmarkt.“

„Hast du gewusst, dass sie ein Mitglied des Ghost Club ist?“

„Ja. Sie hat sowas erwähnt. – Aber nur, weil sie Teil der ältesten Gruppe paranormaler Spinner der Welt ist, hat sie noch lange nicht das Recht, mich zu nerven.“

„Und was hast du zu ihr gesagt?“

Darren wand sich. Ihm war klar, dass er nicht sonderlich feinfühlig vorgegangen war. „Ich habe sie höflich darauf hingewiesen, dass alle angeblichen Medien Betrüger sind, dass es keine Geister gibt und, wenn sie trotzdem was gesehen hat, soll sie sich an einen Psychiater wenden.“

„So klang das bei Paul nicht.“

„Ja, gut. Ich war vielleicht ein wenig direkter. Aber die alte Schreckschraube wollte auch gar keine Ruhe geben. Nicht mal als ich sie auf die Arbeiten von James Randi und Benjamin Radford hingewiesen habe, die eindeutig beweisen, dass der ganze parapsychologische Krempel ein einziger Schwindel ist.“

„Und sie hat sich daraufhin bei Paul und dem Edinburgh Tourist Board beschwert. Außerdem hat sie gedroht, einen geharnischten Artikel für das Clubmagazin zu schreiben. Ganz zu schweigen von ihrem wütenden Leserbrief an das Haunted Magazine, über deren Empfehlungen ihr immerhin fast die Hälfte eurer Kunden bekommt.“

„Sieht wohl so aus“, brummte Darren.

„Paul meinte übrigens, dass er dich nicht nur deswegen rausgeworfen hat.“

„Hat er nicht?“

„Er hätte dich behalten, wenn es nicht schon das dritte Mal wäre, dass du ausgerastet bist. Das dritte Mal in dieser Saison. Und jedes Mal lag es einfach nur daran, dass die Leute an Geister glaubten. – Stimmt das?“

Darren antwortete nicht, aber natürlich hatte Paul recht. Er wusste selbst, dass er zu empfindlich auf die Verrückten reagierte, die er in seinem Job zwangsläufig traf.

„Ich dachte immer, du begeisterst dich für paranormale Phänomene“, sagte seine Mutter. „Ich weiß noch, als Kind hattest du ein ganzes Regal voll mit Geister­sichtungen, Monstern und Außerirdischen. War das nicht der Grund, warum du überhaupt nach Edinburgh gezogen bist?“

„Ja, schon möglich. Als Kind fand ich sowas toll. Aber inzwischen weiß ich es eben besser.“

„Und warum arbeitest du mit dieser Einstellung ausgerechnet bei den Geistertouren?“

„Weil es Spaß macht. Meistens jedenfalls.“

Seine Mutter seufzte. „Wie du meinst. Vielleicht hat die Sache auch ihr Gutes. Ich rufe nämlich eigentlich wegen etwas Anderem an. Deine Großmutter hat sich den Fuß gebrochen und braucht eine Zeit lang Hilfe.“

Darren antwortete nicht.

„Ich dachte, du könntest hinfahren und dich um sie kümmern, bis sie wieder auf den Beinen ist. Auch wenn sie natürlich behauptet, alles im Griff zu haben.“

„Aber, Ma…“

„Du hast doch ohnehin gerade nichts Besseres zu tun. Und dein Vater ist ja immer noch in Florida.“

Darren wusste, was sie damit sagen wollte: Dass ihr Exmann lieber mit seinem neuen Flittchen am Strand lag, als sich um seine kranke Mutter zu kümmern.

Darren seufzte. „Also gut. Ich schau, dass ich morgen Mittag den Zug nehme.“

„Morgen früh. Ich habe Oma Erica schon Bescheid gegeben, dass du zu Mittag da bist.“

Er biss die Zähne zusammen. „Also gut. Morgen früh. Aber nur für eine Woche. Dann muss ich mich um einen neuen Job kümmern.“

„Wie du meinst, Schatz. Hab dich lieb.“

Ehe er noch etwas antworten konnte, hatte sie aufgelegt. Zähneknirschend blickte Darren das Handy in seiner Hand an. Nicht nur, dass er gerade seinen Job verloren hatte und sein Chef darüber statt mit ihm mit seiner Mutter geredet hatte, jetzt sollte er sich auch noch um seine Großmutter kümmern, die in einem kleinen Kaff an der Westküste lebte.

Tarus kam ins Zimmer geschlendert. In der Hand hielt er einen Becher Kaffee.

„Probleme?“

Darren warf ihm einen finsteren Blick zu. Sicher hatte sein Mitbewohner und Vermieter von der Küche aus das Telefonat belauscht. „Du hast ja keine Ahnung.“

Tarus zog ein mitleidiges Gesicht. „Armer Darren. Musst du dein krankes Großmütterchen im finsteren Hinterwald besuchen? Soll ich dir einen Kuchen einpacken und eine Flasche Wein für die nette alte Dame? Und pass ja auf, dass du dich in der Wildnis nicht verirrst.“

„Blödmann. Das sagst du nur, weil deine eigenen Großeltern gerade nicht auf ihrem absurd großen Anwesen im Norden weilen, sondern noch in ihrem Ferienhaus an der Côte d’Azur sind.“

„Erwischt.“ Tarus grinste und seine grauen Augen funkelten amüsiert. Dann wurde sein Blick ernst. „Wie lange bleibst du denn in der Provinz?“

Darren zuckte mit den Schultern „Eine Woche? Zwei?“

„Könnte es auch länger dauern?“

„Ich hoffe nicht. Aber möglich wäre es natürlich. Wieso fragst du?“

Tarus setzte sich auf einen Sessel und starrte in seinen Kaffee. „Wegen Abigail“, sagte er schließlich. „Sie liegt mir seit Wochen in den Ohren, wann wir endlich zusammen­ziehen. Wenn es nach ihr ginge, hätte ich dich schon vor zwei Monaten rausgeworfen.“ Er warf seinem Freund einen zerknirschten Blick zu. „Und jetzt, wo du vorläufig ohnehin keine Bleibe in Edinburgh brauchst, hättest du genug Zeit, dir etwas Neues zu suchen.“

Fassungslos starrte Darren seinen Kumpel an.

„Deinen Kram kannst du natürlich so lange hier lassen“, beeilte der sich zu versichern.

„Das heißt, du schmeißt mich raus? Ausgerechnet jetzt, wo ich meinen Job verloren habe?“

Tarus zuckte mit den Schultern. „Tut mir ja leid, Mann. Aber du wusstest, dass du das Zimmer nur übergangs­weise haben kannst.“

Darren brummte. Es stimmte. Er hätte sich längst um eine neue Bleibe kümmern sollen. Aber ohne ein geregeltes Einkommen war das beinahe unmöglich. Zumindest, wenn er weiterhin in der Altstadt von Edinburgh leben wollte.

„Ja gut. Ich zieh aus.“

„Danke, Mann.“ Tarus grinste erleichtert.

Als er sich wieder verzogen hatte, warf sich Darren mit dem Gesicht nach unten auf das Sofa.

Morgen beginnt der Rest von meinem Leben, dachte er frustriert. Ohne Job, ohne Wohnung und in einem Kaff, das so abgelegen ist, dass dort nur zweimal am Tag der Bus fährt – wenn überhaupt. Jippie.


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