Sommer mit Mord – Leseprobe

Kapitel 1

Darren keuchte vor Anstrengung. Als er das Torfmoor so weit hinter sich gelassen hatte, dass er hoffte, nicht sofort von den Schwärmen blutdürstiger Stechmücken aufgefressen zu werden, verlangsamte er sein Tempo. In flottem Wandertempo versuchte er, etwas zu Atem zu kommen, bis sich die Wiese nicht mehr wie ein Karussell um ihn herum drehte. Obwohl er mehrmals hinter sich blickte, konnte er keinen Verfolger entdecken. Erleichtert wurde Darren noch langsamer.

Die Laufstrecke im Norden der Insel Mull führte hier über eine unebene Weide voll mit Mutterschafen, ihrem übermütigen Nachwuchs und Schafskötel. Etwa hundert Meter weiter überquerte der Weg einen Bach, ehe er sich durch den Wald hinauf zum Glengorm Castle wand. Gut vier Meilen waren es noch von dem verspielten Landhaus mit seinen Erkern und Türmchen bis zurück nach Tobermory.

Darren fluchte. Wieso hatte er sich nur dazu überreden lassen?

„Na? Mal wieder auf der Flucht, Macdonald?“

Überrascht blieb Darren stehen und blickte sich um. Aber bis auf ein Schaf, das zwischen den Steinen eines halb verfallenen Steinkreises stand, konnte er niemanden entdecken.

„Was glotzt du so?“, fragte das Schaf.

Darren fuhr sich mit einer schwitzigen Hand über die Augen. Hatte er das wirklich gehört? Er öffnete den Mund, aber sofort hatte er mindestens ein Dutzend winziger Stechmücken im Rachen. Fluchend und mit den Armen wedelnd spuckte er die Insekten wieder aus. Er beeilte sich, mit ein paar raschen Schritten aus dem dichten Midgieschwarm herauszukommen. Er hätte es wissen müssen. Die kleinen Biester waren immer dann am aggressivsten, wenn das Wetter so war, wie jetzt: warm, windstill und leichter Nieselregen.

Das Schaf lachte über ihn. Dann drehte es sich um und wanderte aus dem Steinkreis heraus, um sich eine neue Stelle zum grasen zu suchen.

„Offenbar bist du genauso dämlich, wie du aussiehst“, meinte die Stimme.

Darren runzelte die Stirn. Das Schaf konnte das nicht gewesen sein, denn es wanderte mit einem Grasbüschel im Maul über die Wiese. Er betrachtete den verfallenen Steinkreis. Viel war nicht mehr davon übrig. Lediglich dreieinhalb Steine an deren verwitterten Seiten sich Büschel von Schafwolle verfangen hatten.

„Ist hier jemand?“, fragte er.

Er lauschte. Aber außer dem fernen Rauschen des Meeres und dem Blöken der Mutterschafe war nichts zu hören.

Kopfschüttelnd drehte sich Darren wieder zum Weg. Er war sicher längst der Letzte aus dem Starterfeld des Zehn-Meilen-Country-Run. Jetzt musste er sich nicht auch noch die Blamage antun, mit einer halben Stunde Verspätung nach den anderen ins Ziel zu kommen.

„Sapperlot! Hast du mich etwa gehört?“, fragte die Stimme hinter ihm.

Darren schnaufte genervt. „Natürlich höre ich dich. Aber ich habe grad keine Zeit für dumme Spielchen.“

Ohne sich umzudrehen, fiel er in einen langsamen Trab. Mehr als vier Meilen lagen noch vor ihm und schon jetzt taten ihm die Beine weh. Außerdem hatten ihn die anderen Läufer so weit hinter sich gelassen, dass er seit mindestens einer Meile keinen von ihnen mehr gesehen hatte.

Nachdem er den Bach überquert hatte, drehte sich Darren doch noch einmal zum Steinkreis um. Er sah nur Schafe, Wiese und regennasse Felsbrocken. Dann glaubte er plötzlich, eine Gestalt zwischen den Steinen zu erkennen. Einen bärtigen Mann, der einen Kilt trug und sich mit einem Plaid über den Schultern gegen die Feuchtigkeit schützte. Als der Mann sah, dass Darren in seine Richtung blickte, hob er grüßend den Arm.

Darren schüttelte frustriert den Kopf und machte sich an den Aufstieg, der ihn durch den Wald zum Glengorm Castle bringen würde.

Zwanzig Minuten später hatte Darren das verspielte neugotische Herrenhaus längst hinter sich gelassen. Vor ihm erstreckten sich Torfmoore, raue, unebene Heidelandschaft und ein paar, von Büschen und Bäumen gesäumte, tief eingeschnittene Bachbetten. Der Streckenposten oben am Castle hatte ihm zugerufen, dass die anderen Läufer bereits vor einigen Minuten bei ihm vorbeigekommen waren.

Noch immer lagen mehr als zwei Meilen vor ihm, bis er das Ziel auf dem Festgelände der Mull Highland Games erreichen würde. Wenigstens hatte es aufgehört zu nieseln. Die Wolken hingen weiterhin schwer und drohend über seinem Kopf, aber die Feuchtigkeit, die sein enges Lauf­shirt an seinen Körper klebte, war jetzt nur noch sein eigener Schweiß.

Als er ein Gebüsch erreichte, hielt Darren an. Zwar war er dem Streckenposten dankbar für die zwei Becher mit Wasser, die dieser ihm in die Hand gedrückt hatte, aber das ständige Auf-Und-Ab auf der unebenen Strecke machte eine kurze Unterbrechung nun unabdingbar. Ein rascher Blick in die Umgebung zeigte Darren, dass er vollkommen allein war. Trotzdem ging er ein paar Meter tief ins Gestrüpp, ehe er seinen Kilt nach oben und seine Laufhose nach unten schob.

Die Erleichterung, die Darren das Wasserlassen verschaffte, war nur von kurzer Dauer. Er hatte seine Hose noch nicht wieder an ihren Platz gezogen, als sein Blick auf ein wachsweißes Frauenbein fiel, das kaum drei Meter entfernt unter einem Busch hervorragte. Später war sich Darren selbst nicht mehr ganz sicher, woher er gewusst hatte, dass das nackte Bein einer Frau gehörte. Aber vielleicht war es einfach offensichtlich, da die Haut an der wohlgeformten Wade glattrasiert war. Die Zehennägel an dem zierlichen Fuß waren in einem leuchtenden Lila lackiert.

Darren starrte das reglose Bein ein paar Sekunden lang schockiert an. Dann rückte er seinen Kilt zurecht und schob sich durch das Gebüsch, um auch den Rest der Frau ausfindig zu machen, die hier offenbar halb nackt und regungslos auf dem Boden lag.

„Brauchst dich nicht beeilen. Die ist hinüber“, erklärte eine Stimme von der anderen Seite des Gebüschs.

„Was?“, fragte Darren verständnislos. Eilig arbeitete er sich weiter durch die dicht belaubten Zweige. Als er die letzten Äste beiseitegeschoben hatte, sah er eine knapp zwei Meter hohe grasbewachsene Böschung vor sich. Oben waren eine menschenleere Wiese und ein beinahe vollständiger Steinkreis zu erkennen. Vom Sprecher gab es keine Spur. Unten, gleich neben Darren, lag der blasse und leblose Körper einer jungen Frau. Sie war bis auf die Unterwäsche nackt. Und sie schien tot zu sein, denn sonst war es kaum zu erklären, dass aus der gefährlich aussehenden Stichwunde in ihrem Rücken kein Blut quoll. Auf dem rechten Schulterblatt dicht neben der Verletzung befand sich ein Tattoo, das an ein Pentagramm erinnerte.

Einen Augenblick lang betrachtete Darren die Gestalt, die sich vor ihm auf dem Boden befand, ungläubig. Sie lag auf der Seite mit den Füßen unter den Büschen, den Rücken Darren zugewandt. Über ihrem Gesicht hing ein Vorhang aus dichtem rabenschwarzem Haar. Was war ihr nur passiert?

Darren biss die Zähne zusammen und bückte sich, um am Hals der jungen Frau nach dem Puls zu tasten. Vielleicht lebte sie ja noch, auch wenn ihre beinahe blaugraue Hautfarbe und die klaffende Stichwunde ihm nicht viel Hoffnung gaben. Nach kurzem erfolglosem Herumtasten auf der wächsern-kalten Haut stand er auf und beeilte sich, von der Toten wegzukommen. Ihm war übel.

„Hab dir doch gesagt, dass sie tot ist.“

Verdutzt schaute Darren auf. Zwischen den Steinen des Steinkreises stand ein bärtiger Mann in Kilt und Umhang. Kopfschüttelnd blickte der Fremde zu ihm herunter. Wäre es nicht äußerst unwahrscheinlich, hätte Darren geglaubt, dass es sich um denselben Kerl handelte, den er an den Steinen von Glengorm gesehen hatte, denn er trug das gleiche altmodische Gewand. Auch die Stimme schien ähnlich zu sein. Doch wie hätte der Mann so schnell hierher kommen sollen?

„Haben Sie schon die Polizei gerufen?“, fragte Darren.

Der Bärtige lachte. „Wer? Ich? Für wen hältst du mich, Macdonald?“

Darren zögerte. Tatsächlich kam ihm der Fremde langsam etwas merkwürdig vor. „Warum nennen Sie mich Macdonald?“, fragte er irritiert.

Der Bärtige legte den Kopf schief. „Weil das dein Name ist. Du bist Bothain Macdonald von der Insel Eigg. Und du bist noch immer so ein Hänfling wie früher. Außerdem trägst du den gleichen Tartan wie dein Bruder Darach.“

Darren blickte stirnrunzelnd auf seinen Kilt. Oma Erica hatte darauf bestanden, dass er den anzog, obwohl bei den Laufwettbewerben höchstens die Hälfte der Teilnehmer einen Kilt trug. „Der Kilt stammt von meiner Großmutter, Erica Bagshaw“, erklärte er. „Und mein Name ist nicht Macdonald, sondern Bagshaw. Darren Bagshaw.“

Der Bärtige lachte. „Das war klar. Macdonald trägt das Röckchen seiner Großmutter. Hat sie dir auch gesagt, du sollst bei den Tanzwettbewerben antreten?“

Langsam hatte Darren genug. „Ich denke, das reicht jetzt. Wer bitte sind Sie? Und warum haben Sie nicht längst die Polizei gerufen, wenn Sie wissen, dass hier eine Tote liegt?“ Darren blickte herausfordernd zu dem Bärtigen hinauf. Natürlich wäre es möglich, dass der Fremde selbst der Mörder der unglücklichen jungen Frau war. Doch irgendwie glaubte Darren nicht daran.

Während er auf eine Antwort wartete, betrachtete er den Fremden etwas genauer. Sein Haar war etwa schulterlang und ebenso goldbraun wie sein kurz getrimmter Bart. Er war groß und breitschultrig, als hätte er sein Leben lang hart gearbeitet. Er hatte ein gut aussehendes, etwas wettergegerbtes Gesicht und hellgraue Augen, die amüsiert funkelten. Darren schätzte, dass er vielleicht dreißig oder vierzig Jahre alt war. Sein Kilt oder besser sein altmodischer Belted Plaid war in gedeckten Rot und Grüntönen gehalten und ebenso wie sein weißes Leinenhemd an mehreren Stellen geflickt. Darren versuchte, die auffällige Brosche genauer zu erkennen, die den Plaid über den Schultern des Mannes zusammenhielt. Dabei stellte er fest, dass er die andere Seite des Steinkreises sehen konnte. Und zwar die Stelle, die sich genau hinter dem Bärtigen befand. Etwas verwundert rieb sich Darren die Augen. Aber es gab keinen Zweifel: Der Kerl war durchscheinend, so als existiere er gar nicht richtig.

Als er dem Mann wieder ins Gesicht blickte, stellte er fest, dass der grinste. „Bist du endlich drauf gekommen?“, fragte er. Ehe Darren antworten konnte, hob der Fremde hochmütig das Kinn. „Mein Name ist Morogh MacLean. Ich bin ein Geist. Schon seit vierhundert Jahren.“

Darren starrte ihn an. „Aber es ist heller Tag!“ Er wusste natürlich, dass er seit einiger Zeit Geister sehen konnte. Doch bisher waren die ihm nur im Dunkeln begegnet. Bei Licht verschwanden sie und konnten sich hinterher nicht einmal mehr erinnern, wo sie gewesen waren. Zugegeben, dank der dicken Wolkendecke war es heute nicht besonders hell. Aber trotzdem. Geister durften einfach nicht am helllichten Tag herumspuken. Sonst hätte er schließlich nie seine Ruhe vor ihnen.

MacLean blickte zu Darren herunter und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht liegt es am Steinkreis. Der bündelt die Energie.“ Dann deutete er mit dem Kinn auf den Boden neben Darren. „Was willst du nun mit der toten Hexe machen? Du kannst sie wohl kaum so hier liegen lassen.“

Auch Darren blickte auf die Tote. „Ich … ich muss die Polizei rufen, oder?“ Er richtete seinen Blick wieder auf MacLean, aber der zuckte nur teilnahmslos mit den Schultern.

Hektisch tastete Darren über seinen Kilt. Aber seine Sporran-Tasche, die Handy und Autoschlüssel enthielt, hatte er für den Laufwettbewerb in der Obhut seiner Großmutter gelassen. Also kletterte er hinauf zu Morogh MacLean, in der Hoffnung, von dem leicht erhöhten Standpunkt eine nahe Farm oder ein paar Wanderer ausmachen zu können. Doch das Einzige, was zu sehen war, war die Märchenschloss-Silhouette von Glengorm Castle, das sich mehr als eine Meile entfernt befand.

Das Schloss war derzeit wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Und der Streckenposten, den er gesehen hatte, war sicher längst zurück zu den Highland Games gefahren. Also konnte Darren dort oben vermutlich keinerlei Hilfe erwarten. Seine einzige Chance war, die restlichen zwei Meilen des Rennens hinter sich zu bringen und vom Ziel aus die Polizei zu informieren. Seufzend und mit einem letzten Blick hinunter auf die tote junge Frau machte sich Darren auf den Weg.


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