Kapitel 1
„Sigrun! Es ist etwas ganz Furchtbares passiert!“, rief Jordis aufgelöst, als sie kurz vor dem Frühstück in unser Langhaus gestürzt kam.
Ich war gerade dabei, für unsere Mahlzeit Fladenbrote über dem offenen Feuer zu rösten, deshalb streifte ich sie nur mit einem abwesenden Blick. Dann konzentrierte ich mich gleich wieder auf die Pfanne, die ich über der Feuerstelle in der Mitte der Halle platziert hatte.
„Was ist denn los? Hat Ragnar wieder deine Hafermilch ausgetrunken?“
„Nein!“ Meine Freundin zögerte. „Oder hat er was zu dir gesagt?“
Ich schmunzelte, während ich die Brote in der Pfanne wendete. „Hat er nicht.“
„Oh. Gut.“ Eine kurze Pause entstand. Dann platzte sie plötzlich heraus: „Jemand hat Gunnar mit der Axt erschlagen!“
„Wirklich? Das war aber auch höchste Zeit! Jetzt mault er endlich nicht mehr, dass ich das ganze Mehl für unser Brot mit der Handmühle hätte mahlen müssen.“ Ich klopfte mit dem Holzlöffel auf die Fladenbrote, um zu prüfen, ob sie gar waren, während ich überlegte, welcher unserer Krieger mutig genug war, Gunnar derart zu verärgern. „War es Knut?“
Ein merkwürdiges Geräusch, halb Würgen, halb nervöses Kichern ließ mich zu Jordis aufschauen, die mit schockweiten Augen neben dem Eingang stand. „Es war nicht beim Schaukampf!“
Ich runzelte die Stirn, als ich ihr blasses Gesicht sah. „Soll das heißen, dass Gunnar richtig tot ist?“
Sie nickte. „Ich habe gerade Rikke getroffen. Sie war auf dem Weg ins Büro, um die Polizei zu rufen. Sie und Sören haben ihn vorhin gefunden. Er lag in einer Blutlache und rührte sich nicht.“
Obwohl meine Freundin offenbar davon überzeugt war, dass Gunnar das Zeitliche gesegnet hatte, beschloss ich, es erst zu glauben, wenn ich seine Leiche sah. Tatsächlich erwartete ich, dass unser Jarl jeden Moment quicklebendig in das Langhaus geschlendert kam und wie Mark Twain verkündete „Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben.“ Außerdem wäre eine Axt eine viel zu theatralische Mordwaffe für einen Wikinger, als dass sie real sein konnte.
„Hat Rikke dir gesagt, wo sie Gunnar gefunden hat?“
Jordis nickte noch einmal.
Ich wartete darauf, dass sie weiterredete. Doch Jordis trat nur unruhig von einem Bein aufs andere. Mir fiel auf, dass sie unter ihrem schlichten, hellblauen Leinenkleid barfuß war. Vermutlich, weil Gunnar sich immer über ihre Ledersandalen beschwerte. Nicht authentisch genug, behauptete er.
Schließlich seufzte ich. „Wo haben sie ihn gefunden?“
Jordis biss sich auf die Lippe. „Kommst du mit hin, Sigrun? Ich zeigs dir. Ich hab mich allein nicht getraut nachzuschauen.“
„Natürlich komme ich mit.“
Ich hob die Pfanne vom Feuer und fischte die letzten Fladenbrote aus dem brutzelnden Fett. Ich warf einen bedauernden Blick auf den Stapel goldgelber Brote, die ich in der letzten halben Stunde gebacken hatte. So gut waren sie mir bisher noch nie gelungen und warm schmeckten sie am besten. Trotzdem stellte ich den hölzernen Teller erstmal in das Hängeregal, wo er hoffentlich außer Reichweite von Mäusen und anderen Räubern war, bis die anderen Mitglieder unserer Wikingersippe zum Frühstück kamen.
Zuletzt schnappte ich mir noch zwei der duftenden Brote und folgte Jordis nach draußen.
„Willst du auch?“, fragte ich und hielt Jordis ein Brot hin.
Sie warf einen kurzen Blick darauf und schüttelte den Kopf. Dann ging sie eilig an der Stadtwiese vorbei zu dem kleinen Pfad, der hinunter zum Bach führte.
Ich zuckte mit den Schultern, biss in mein Brot und folgte ihr. Erst später fiel mir ein, dass ein in Schweineschmalz gebackenes Fladenbrot wohl kaum das richtige Frühstück für eine Veganerin wie Jordis war. Mir aber schmeckte es. Inges Tipp mit der Teigruhe über Nacht hatte sich wirklich ausgezahlt. Und dass ich Hefe statt historisch korrektem Sauerteig verwendet hatte, musste Gunnar ja nicht unbedingt erfahren. Als ich mich erinnerte, dass unser Jarl angeblich tot war, ließ ich das Brot sinken.
Inzwischen hatten wir fast die Wikingerburg erreicht. Sie war eine verkleinerte Kopie der Ringburgen in Fyrkat und Trelleborg. Aber eigentlich war sie nicht viel mehr als ein kreisrunder Erdwall von vielleicht vier Metern Höhe, der im Inneren durch Wege in vier gleichgroße Teile geteilt war. In einem der Viertel wurde gerade ein Langhaus gebaut. Drei weitere sollten in den nächsten Jahren entstehen. Der unbebaute Platz wurde für das Kriegertraining und zum Bogenschießen genutzt.
Als wir durch den Nordeingang ins Innere der Burg kamen, sahen wir, dass sich schon andere Wikinger eingefunden hatten. Alle hatten sich rund um den Kampfplatz versammelt.
Ganz vorn stand der alte Sören. Am linken Unterarm trug er eine lederne Armschiene über seiner ausgewaschenen, gelben Leinentunika. Vermutlich war er heute früh zum Bogenschießen hergekommen. Stattdessen hatte er Gunnar gefunden.
Neben Sören stand Rune, der Zimmermann, der den Bau des Langhauses leitete. Er ist ein Bär von einem Mann, der mit seinen kräftigen Oberarmen und dem rasierten Schädel perfekt zu dem Bild eines axtschwingenden Wikingers passt.
Außerdem waren Sylvie und Maik Kretschmar da, die wie Jordis und ich zu Jarl Gunnars Wikingersippe, den Elveulver, gehörten. Die anderen waren Halvar und Knut, zwei Krieger, die wie wir als Freiwillige hier waren, und zwei Frauen in identischen, blassgelben Leinenkleidern und braunem Hängerock, die ich nicht näher kannte. Sie arbeiteten im Café oder möglicherweise auch im Souvenirladen.
„Woher wusstet ihr, was hier passiert ist?“, fragte ich Sylvie und Maik.
Sylvie schaute mich überrascht an. „Von Jordis natürlich. – Ist das nicht grauenhaft?“
In diesem Moment konnte ich zum ersten Mal den Boden des Kampfplatzes richtig sehen.
Gunnar lag mit dem Rücken zu uns in der Mitte des Platzes. Es war eindeutig, dass er tot war. Das spärliche, mausfarbene Haar an seinem Hinterkopf war blutverklebt. In seinem Schädel steckte eine Axt. Wie ein makabrer Heiligenschein hatte sich eine Blutlache rund um seinen Kopf gebildet, außen bereits dunkelbraun und nah beim Kopf noch fast rot.
Als ich das ganze Blut sah, das den Boden des Kampfplatzes tränkte, musste ich würgen. Gunnars Tod war plötzlich keine gelegentliche Fantasie mehr, sondern grausame Realität. Der Duft der frisch gebackenen Brotfladen in meiner Hand gab mir den Rest. Eine Hand vor den Mund haltend, ließ ich Jordis und die anderen stehen und rannte zurück zum Rand des Platzes.
Ich beeilte mich, die Ringburg zu verlassen. Auf der anderen Seite des Erdwalls verschwand ich im nächstbesten Gebüsch und übergab mich. Den angebissenen Fladen und auch das Brot, das ich für Jordis mitgenommen hatte, warf ich über das Gatter in den Schafspferch. Schade drum. Ich hoffe, den Schafen hat es geschmeckt.
Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, kehrte ich zurück in die Wikingerburg und stellte mich neben Jordis. Die starrte mit großen Augen auf den am Boden liegenden Gunnar.
„Was meinst du, Sigrun, könnte es ein Unfall gewesen sein?“, fragte sie. „Oder dass er sich selbst umgebracht hat?“
Mit einiger Überwindung schaffte ich es, unseren toten Jarl anzuschauen, ohne mich noch einmal zu übergeben. Ich versuchte, die Übelkeit zu ignorieren, die der Anblick in mir auslöste, und mich auf die Tatsachen zu konzentrieren. Ich betrachtete die Stelle, an der die Axt noch immer aus Gunnars Hinterkopf ragte. „Wie soll er das angestellt haben?“
Jordis zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht hat er die Axt in die Luft geworfen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Das war eindeutig Mord.“
Ich ließ meine Augen über Gunnars Körper wandern. Noch immer war mir etwas flau im Magen, aber ich schaffte es, mich zusammenzureißen. Wenn ein Mädchen wie Jordis diesen Anblick aushalten konnte, dann schaffte ich es auch. Immerhin war ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren die Ältere von uns beiden. Die mit der Lebenserfahrung, unromantisch und pragmatisch. Ich stand schon mit beiden Beinen im Berufsleben, während Jordis gerade erst mit dem Abitur fertig war und den Kopf noch voller naiver Träume hatte.
Gunnar lag auf der Seite. Unser Jarl trug einen blauen Klappenrock aus Wollstoff, der an den Rändern mit gelber Seide abgesetzt war. So ein Klappenrock ist ein typisch wikingisches Kleidungsstück. Er sieht ein bisschen aus, wie ein zu kurz geratener Bademantel oder eine extralange Judojacke. Ich erinnerte mich noch, wie Gunnar stolz erzählt hatte, dass sein Klappenrock mit echtem Waid gefärbt sei. Ganz authentisch. Allerdings hoffte ich, dass er beim Färben trotzdem moderne Chemikalien verwendet hatte, statt des Ammoniaks aus seinem Urin.
Unter dem knielangen Klappenrock waren Gunnars Beine zu sehen, die in walnussbraunen Leinenhosen und handgenähten Lederstiefeln steckten. Eigentlich sollten die Hosen aus Wolle sein, weil die Leinenherstellung zur Zeit der Wikinger aufwändig und teuer war, erklärte unser Jarl mir irgendwann. Aber davon bekäme er juckende Pusteln am Gesäß. Herzlichen Dank für dieses Bild, Gunnar!
Jordis unterbrach meine Gedanken. „Das ist so schrecklich! – Was denkst du, wer das getan hat, Sigrun?“
Ich dachte darüber nach, während sie nervös am Ende ihres dicken, blonden Zopfes herumzupfte. Schließlich zuckte ich mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Du weißt doch selbst, wie er war. Das könnte so ziemlich jeder gewesen sein.“
„Vielleicht war Gunnar ja auch nur zufällig das Opfer. Kann es nicht sein, dass es ein Serienmörder war?“
Noch bevor ich mit Jordis die Wahrscheinlichkeit eines auf Wikinger spezialisierten Serienmörders diskutieren konnte, entdeckte ich auf der anderen Seite des Kampfplatzes Krischa, der auch ein Mitglied der Elveulver war. Er konnte noch nicht lange hier sein, doch er war schon voll bei der Sache. Gerade hielt er sein Handy auf Gunnar gerichtet und bewegte sich langsam im Kreis um den Toten herum.
„Was bitte treibst du da, Krischa?“, rief ich ihm zu.
„Ragnar!“, korrigierte er mich und warf mir über Gunnars toten Körper hinweg einen vorwurfsvollen Blick zu. Er drückte mit dem Finger auf den Bildschirm und ließ das Handy sinken. Dann kam er zu uns herübergeschlendert. Krischa oder Ragnar, wie sein Wikingername lautete, trug ein zerknittertes Leinenhemd und darunter eine ausgebeulte, graue Trainingshose. Er sah aus, als hätte er noch keine Zeit gehabt, sich vernünftig anzuziehen. Als er Jordis und mich erreichte, begrüßte er uns mit einer angedeuteten Verbeugung.
Ich zog eine Augenbraue nach oben und blickte von dem Handy in seiner Hand zu Gunnars Körper. „Also, Ragnar, was sollte das gerade werden?“, hakte ich nach.
Er schaute mich amüsiert an. „Was glaubst du denn, Sigrun? Ich dokumentiere! Wie oft hat man schon die Gelegenheit, eine echte Leiche zu sehen?“
Dann richtete er seinen Blick wieder auf den Toten und machte rasch noch ein paar Fotos.
„Findest du das nicht etwas makaber?“, fragte Jordis. „Immerhin war er unser Jarl. Und unser Freund – irgendwie.“
„Ich hab ja nicht vor, das Video gleich auf TikTok und Instagram zu teilen“, verteidigte sich Ragnar. „Auch wenn ich damit sicher ohne Probleme tausende Likes bekommen könnte.“
„Trotzdem finde ich es nicht richtig.“
„Das liegt nur an deinen jugendlich naiven Wertvorstellungen, kleine Jordis. Wenn du im Leben Erfolg haben willst, musst du über solchen Befindlichkeiten stehen.“ Ragnar war höchstens drei Jahre älter als sie, lebte aber eindeutig in einer völlig anderen Welt.
Jordis schaute den schlaksigen, jungen Wikinger vorwurfsvoll an.
Der seufzte leidgeprüft und ließ das Handy in seiner Hosentasche verschwinden. „Ist ja schon gut. Aber ich bin sicher, es wird uns allen noch leidtun, dass ich nicht mehr Aufnahmen gemacht habe.“
Am Eingang der Wikingerburg waren Stimmen zu hören. Kurz darauf erschien Rikke, die junge Archäologin des Wikingercenters, in Begleitung eines mir unbekannten Mannes in der Burg. Der Fremde mochte zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt sein, hatte kurz geschorenes, blondes Haar und trug ein hellblaues Hemd unter einer dunkelblauen Windjacke. Ihm folgten mehrere uniformierte Polizisten.
„Hvad sker der her?“, fragte der blonde Mann auf Dänisch und schaute fassungslos auf die versammelten Wikinger.
„Das sind einige unserer Angestellten und ein paar der Freiwilligen“, antwortete Rikke auf Englisch, damit wir sie verstehen konnten. „Und dort ist Sören, unser Weber. Mit ihm gemeinsam habe ich den Toten heute Morgen gefunden.“
Stirnrunzelnd musterte der Fremde unsere bunte Versammlung. Dann schüttelte er resigniert den Kopf und wandte sich an uns. „God morgen. Ich bin Politikommissær Ole Bröner von der Syd- og Sønderjyllands Politi in Esbjerg. Ich bin hier, um den Tod eures – Kollegen zu untersuchen.“
Er ließ seinen Blick über uns schweifen, aber bis auf ein erwartungsvolles Schweigen erntete er keine weitere Reaktion.
„Seid jetzt bitte so nett und verlasst den Tatort, damit meine Kollegen und ich arbeiten können. Tak!“
Er richtet eine leise Frage an Rikke, die ebenso leise antwortete und in Richtung der Wikingersiedlung deutete, die sich jenseits des Burgwalles befand.
Kommissar Bröner nickte. Während die Ersten von uns bereits dem Ausgang zustreben, wandte er sich nochmals an uns. „Bitte nennt beim Hinausgehen Politikadet Trine Grevsen eure Namen und Adressen geht dann zurück an euren Arbeitsplatz. Bleibt bitte unbedingt hier auf dem Gelände des Wikingercenters. Wir kommen im Laufe des Vormittags zu euch und reden mit euch. Danke.“ Langsam und zögernd verließen Jordis, Ragnar und ich mit den anderen die Wikingerburg. Ich fand es komisch, von einem Polizeikommissar geduzt zu werden, als müsste ich ihn kennen. Andererseits war das typisch dänisch. Und der Anblick von Gunnars Leichnam war zwar verstörend gewesen, doch hatte sicher nicht nur ich das Gefühl, hier etwas Aufregendes zu verpassen. Etwas, das ich sonst nur aus den Krimiserien im Fernsehen kannte.
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