
„Und? Ist einer da? Siehst du was?“ Neugierig blickte Katie sich um, konnte aber in dem dunklen Raum nichts Ungewöhnliches erkennen.
Darren versuchte, nicht zu seufzen. Stattdessen atmete er ein paar Mal ganz langsam ein und aus, ehe er antwortete. „Du weißt, dass das nicht so funktioniert, ja?“
Natürlich wusste sie es. Er hatte es ihr ja mehrfach ausführlich erklärt. Trotzdem hatte sie auf diesen Zirkus bestanden: Den runden Tisch, den sie samt ein paar Stühlen eigens aus dem Salon herbeigeschafft hatten, die Kerzen und das Ouija-Brett. Er hatte keine Ahnung, was Katie damit wollte. Immerhin konnte er direkt mit den Geistern reden. Es war völlig unnötig, sich wie im Film gruselige Nachrichten buchstabieren zu lassen. Was Darren am meisten nervte, war, dass sie sich um Punkt Mitternacht in der zugigen Eingangshalle des alten Herrenhauses versammeln mussten, statt im viel gemütlicheren Salon zu bleiben. Aber hier war angeblich das Zentrum des Hauses.
Katie verdrehte die Augen und warf ihrer Freundin Eilidh, die mit ihnen am Tisch saß, einen verschwörerischen Blick zu. Eilidh grinste. Obwohl sie kein Wort sagte, wusste Darren genau, was seine Freundin dachte.
Sofort begann er sich zu verteidigen: „Es ist ja nicht so, dass ich Eilidh nicht helfen will. Ich denke nur, dass das hier nicht der richtige Weg ist.“ Er wedelte mit der Hand zu den beiden Kerzenleuchtern, die auf einem Sideboard standen und zwischen denen ein etwa handtellergroßer Gong hing, mit dem in früherer Zeit vermutlich ein hochnäsiger Butler die Herrschaft zum Dinner gerufen hatte. Katie war begeistert gewesen, als sie das Ding in irgendeinem Zimmer entdeckt hatte. Es sei viel cooler, als das kleine Glöckchen, das sie selbst mitgebracht hatte. Wenn es nach Katie ging, würden sich heute Nacht mit dem Gong die Geister bemerkbar machen.
„Können wir es trotzdem noch einmal versuchen?“ Katies Augen wurden groß und rund und sie zog die Mundwinkel nach unten.
Darren blickte hilfesuchend zu Eilidh. Die junge Frau schmunzelte und zuckte mit den Schultern. Es schien ihr überraschend gleichgültig zu sein, ob es in ihrem Haus spukte oder nicht. Vermutlich hielt sie diese Séance genauso für Unsinn wie er selbst.
Katie griff nach seiner Hand. „Bitte, Darren! Tu’s für mich.“
Darren wusste, wann er verloren hatte, und gab auf. „Von mir aus.“
Seine Freundin strahlte. „Sehr gut. Dann fasst euch an den Händen und konzentriert euch!“
Darren warf Eilidh einen entschuldigenden Blick zu, als er nach ihrer Hand griff. Aber Katie schien nichts davon zu bemerken.
Katie schloss die Augen. „Geister von Cùl Mòr House wir rufen euch. Geister von Cùl Mòr House wir rufen euch. Kommt her und zeigt euch, wenn ihr uns hört! Zeigt euch und sprecht mit einem echten Medium, das euch sehen und hören kann! Darren versteht euch und kann euch helfen.“
Darren zog unwillkürlich den Kopf ein. „Musst du mich so anpreisen?“, murmelte er. Er schaute zu Eilidh, die sich über seine Reaktion ziemlich zu amüsieren schien.
„Wieso denn nicht?“, fragte Katie unschuldig. „Wie sollen die Geister sonst wissen, was für eine einmalige Gelegenheit das für sie ist?“
„Ich will nur nicht enden wie Woopie Goldberg in diesem alten Film. Du weißt schon, wo die ganzen Geister ständig bei ihr Schlange stehen. Sogar unter der Dusche.“ Außerdem wollte er sich vor Katies Freundin nicht so zum Affen machen lassen. Obwohl es dafür vermutlich schon zu spät war.
„Meinst du nicht, du übertreibst ein bisschen? Viele Geister wird es auf so einer kleinen Insel wohl nicht geben.“
Darren seufzte. „Schon möglich. Aber, ehrlich gesagt, ein nerviger Geist kann schon mehr als genug sein.“
„Hab dich nicht so. Und jetzt konzentrier dich, bitte. – Ihr Geister von Cùl Mòr House kommt und zeigt euch!“
Sie wartete noch einen Augenblick, dann öffnete sie die Augen und schaute ihren Freund erwartungsvoll an.
Gehorsam ließ Darren seinen Blick durch die finstere Eingangshalle des alten Herrenhauses wandern. Aber jenseits des schummerigen Lichtkreises, den die Kerzen auf den Tisch und die Gesichter von Katie und Eilidh warfen, war nicht viel zu erkennen.
Als er sich weiter umdrehte, entdeckte er links neben der Eingangstür einen bedrohlichen schwarzen Schatten. Er sah aus wie ein Axtmörder, der auf sein nächstes Opfer lauert. Aber Darren erinnerte sich, dort bei seiner Ankunft einen Schirmständer und einen Topf mit einer betagten Yuccapalme gesehen zu haben. Da war kein Mörder und ziemlich sicher auch kein Geist.
Über dem Treppenabsatz auf der anderen Seite der Halle fiel fahles Mondlicht durch das Fenster auf die mit dunklem Holz getäfelten Wände. Auf der Wandverkleidung war ein rötlicher Fleck zu erkennen, der aussah wie ein blutiger Handabdruck. Doch als Darren genauer hinsah, entpuppte sich der dunkle Fleck einfach als ein Strahl Mondlicht, der durch das bunte Fensterglas rot gefärbt wurde. Auch im Rest der Halle sah er nichts, was auf die Anwesenheit eines Geistes hindeutete. Weder im Spiegel über der Kommode noch in den dunklen Schatten der Türen zum Salon und ins Esszimmer.
Er spitzte die Ohren und lauschte. Nichts. Nur das Ticken einer Uhr und das nervöse Wippen von Katies Fuß waren zu hören. Sonst rührte sich nichts in dem alten Gemäuer.
Darren ließ Katies Hand los und rieb sich die müden Augen. Er unterdrückte ein Gähnen. „Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir hier nur unsere Zeit verschwenden. Vermutlich gibt es in diesem Haus gar keine Geister. Lass uns Schluss machen und ins Bett gehen.“
Katie schüttelte energisch den Kopf. „Natürlich gibt es hier Geister. Du glaubst doch wohl nicht, dass Eilidh sich das alles nur eingebildet hat: Die schlagenden Türen und die Möbel, die sich von selbst bewegt haben? – Bestimmt brauchen die Geister einfach nur mehr Zeit. Sie können ja nicht wissen, dass sie heute einen echten Geisterseher im Haus haben.“
Sie presste den die Lippen aufeinander, schloss die Augen und lauschte erwartungsvoll in die Dunkelheit. Darren seufzte. Trotzdem horchten auch er und Eilidh auf seltsame Geräusche. Aber bis auf das gelegentliche Knacken uralter Holzbalken war es in dem nächtlichen Haus mucksmäuschenstill. Selbst der frische Wind, der am Abend noch an den Fenstern gerüttelt hatte, schien inzwischen eingeschlafen zu sein. Nur das ferne Rauschen der Wellen, die jenseits der Dünen an das Ufer schlugen, drang leise durch die geschlossenen Fenster.
Hinter Darren war auf einmal ein leises Schnarren zu hören. Auch Katie musste das Geräusch gehört haben, denn sie öffnete die Augen und warf ihm einen triumphierenden Blick zu. Angespannt warteten sie darauf, was als Nächstes passieren würde.
Nach ein paar Sekunden erstarb das Rasseln. Kurz darauf erklang ein lautes, blechernes Scheppern, als hätte jemand eine ganze Ladung Töpfe die Treppe hinuntergeworfen. Darren blieb vor Schreck fast das Herz stehen und Katie packte seine Hand so fest, dass er vor Schmerz aufstöhnte.
Auch Eilidh war im ersten Moment zusammengezuckt. Doch jetzt lachte sie. „Das ist nur die Uhr!“ Sie deutete auf eine mannshohe, alte Standuhr auf der anderen Seite des Raumes.
Nach einer knappen Minute hörte das gruselige Scheppern auf. In der plötzlich ohrenbetäubenden Stille folgte ein einzelner klarer Gongton.
Darren atmete erleichtert auf. Selbstverständlich wusste er, dass Geister für Menschen ungefährlich waren. Aber die gruselige Atmosphäre in dem alten Haus konnte einen das leicht vergessen lassen.
„Tut mir leid“, sagte Eilidh, als wieder Ruhe eingekehrt war. „Ich vergesse immer wieder, was für einen Krach die Uhr machen kann. Früher soll sie eine richtige Melodie gespielt haben. ‚Rule, Britannia‘ oder was ähnlich Patriotisches. – Wahrscheinlich sollte ich das alte Ding anhalten. Aber wenn außer mir keiner hier ist und es ganz still wird, bin ich manchmal froh, dass wenigstens noch die Uhr tickt.“
Katie schmunzelte. „Vielleicht solltest du dir lieber eine Katze anschaffen“, schlug sie vor. „Trotzdem schade, dass es nicht dein Geist war.“ Sie schaute zur Standuhr und hinauf zum Fenster über der Treppe. Dann versuchte sie, im Kerzenschein ihre Armbanduhr zu lesen. „Fast eins. Ich hab gar nicht gemerkt, dass wir schon so lange hier sind. Glaubt ihr, es lohnt sich, es noch einmal zu versuchen?“
Darren schüttelte den Kopf. „Eher nicht.“
„Schade“, seufzte seine Freundin und ließ sich gegen die Lehne ihres Stuhls fallen. „Wie wäre es dann, wenn wir für heute Schluss machen und ins Bett gehen? Wir sind ja noch ein paar Tage hier und können uns auch morgen überlegen, wie wir deinen Poltergeist ausfindig machen, Eilidh.“
„Sicher.“ Ihre Freundin nickte. Sie bliesen die Kerzen aus, dann trugen sie den runden Tisch und die Stühle zurück in den Salon. Keiner von ihnen bemerkte, dass sie von zwei Paar Augen beobachtet wurden, als sie schließlich erschöpft die Treppe zu ihren Zimmern hinaufstiegen. Sie sahen weder die Gestalt, die sich hinter den Falten eines bodenlangen Vorhangs verbarg, noch das blasse Gesicht auf der anderen Seite des Salonfensters.
Du bist neugierig, wie es weitergeht?
Hier gehts zum ganzen Buch: https://www.amazon.de/dp/B0FM8VVQXP