Leseprobe
1 Der Bote
Mit einem zufriedenen Seufzen ließ sich Siegbald in den Badezuber sinken. Das heiße Bad war ein Luxus, den er sich nicht öfter als einmal in der Woche gönnte. Der Aufwand, das Wasser vom Brunnen zu holen, auf dem Herd zu erhitzen und es anschließend zum Badezuber zu schleppen, war einfach zu groß. Doch der Moment in dem ihm das heiße Wasser über die Schultern schwappte und das Prickeln des beinahe zu heißen Wassers nachließ, entschädigte ihn für die Mühe.
Früher hatte er keinen Gedanken daran verschwendet und sich beinahe jeden Tag von seinem Leibdiener ein Bad bereiten lassen. Doch seit er in Aequipondium war, hatte er keinen Leibdiener mehr und das hieß, er, Siegbald Odin Sockenloch, musste sich selbst um sein Badewasser kümmern. Es spielte keine Rolle, dass er Sonderbotschafter des preußischen Königs war, ein Entdecker und inzwischen auch ein recht erfahrener Abenteurer. Wenn er baden wollte, musste er selbst anpacken.
„SOCKENLOCH!“
Der Ruf, der Siegbald aus seiner Träumerei riss, war so laut, dass die Fensterscheiben klirrten und sich ein zitterndes Wellenmuster auf seinem Badewasser bildete.
Die laute, tiefe Stimme klang ein wenig nach dem Riesen Herrn Heinzel, fand Siegbald. Aber warum sollte der ihn aufsuchen? Und warum ausgerechnet jetzt? Er ließ sich noch ein paar Zentimeter tiefer ins heiße Wasser sinken. Ein Glück, dass seine Freundin Theolinde Taubenfuß, der der Badezuber und auch das Haus, in dem er stand, gehörte, sogar noch eine Handbreit größer war als der ohnehin schon stattliche Siegbald. So bot der Zuber ihm ausreichend Platz.
„SOCKENLOCH!“
Aus dem nun etwas dumpferen Klang schloss Siegbald, dass der Rufer das Haus durch die Hintertür betreten hatte und jetzt in der Küche stand. Offenbar war es tatsächlich Herr Heinzel, denn wer sonst würde es wagen, einfach uneingeladen das Haus einer Hexe zu betreten? Theolinde war nicht zu Hause, aber sicher würde gleich Johannes, Siegbalds ehemaliger Diener, den Riesen darüber informieren, dass Siegbald gerade ein Bad nahm. Er mochte ihn nicht mehr bedienen, doch waren sie gewissermaßen Hausgenossen und er respektierte immer noch die Privatsphäre des Entdeckers.
Gerade fiel Siegbald ein, dass Johannes heute den Comte de La Pérouse besuchen wollte, da donnerte auch schon die Faust des Riesen gegen die Tür der Kammer. Ehe Herr Heinzel nun die Tür einschlagen und seinen Kopf hereinstecken konnte, meldete sich Siegbald schließlich.
„Ich komme gleich“, rief er und wurde mit einem zufriedenen Grollen belohnt.
Kurz darauf hörte er am Knarren der Dielen, dass Herr Heinzel in die Küche zurückgekehrt war. Einen Moment lang war Siegbald versucht, noch zehn Minuten in der Wanne liegen zu bleiben, damit sich der ganze Aufwand mit dem Badewasser wenigstens gelohnt hatte. Doch das Wissen, dass draußen ein ungeduldiger Riese auf ihn wartete, hatte die Atmosphäre der Entspannung vertrieben. Brummend kletterte Siegbald aus dem Zuber. Vielleicht ließ sich die Angelegenheit ja rasch genug regeln, dass er wieder in die Wanne kam, ehe das Wasser kalt war.
Er warf einen kurzen Blick in Theolindes Frisierspiegel. Ein stattlicher Mann. So hatte man ihn zumindest noch vor ein paar Jahren bezeichnet. Groß und breitschultrig war er noch immer. Doch seine schönen blonden Locken wurden spärlicher und gerade jetzt hingen sie wie nasse Rattenschwänze über seine Ohren und bis auf die Schultern. Und am Bauch setzte er langsam Fett an. Versuchsweise hielt er die Luft ein und zog den Bauch ein. Ja, so war es besser. Insbesondere, da ungewohnte Arbeiten, wie das Wasserholen, seine Muskeln hatten anwachsen lassen, machte er so eine gute Figur, für einen Mann von gut dreißig Lebensjahren.
Ein Klappern aus der Küche erinnerte ihn an den wartenden Riesen. Rasch rubbelte er sich trocken und zog einen Morgenmantel über.
Mit feuchtem Haar und nur halbwegs präsentabel bekleidet, erschien Siegbald wenig später in der Küche. Herr Heinzel, der Riese, hatte sich inzwischen selbst einen Tee bereitet, den er nun zwischen seinen gewaltigen Pranken hielt. Er war regelmäßig zu Gast in Theolindes Küche, so war der Entdecker nicht sonderlich überrascht, ihn zu sehen. Allerdings führten ihn seine Angelegenheiten immer zur Hexe. Dass er einmal nach Siegbald suchte, war ungewöhnlich und genaugenommen seit der unglückseligen Geschichte mit Küchenhuhn Alma Wiesenglück nicht mehr geschehen. Damals war er im Auftrag des Königs unterwegs.
„Was gibt es?“ fragte Siegbald leicht ungehalten.
Doch nun, da er ihn gefunden hatte, hatte es Herr Heinzel gar nicht mehr so eilig, zur Sache zu kommen. Zuerst fragte er nach Theolinde, dann nach dem Befinden ihrer gemeinsamen Freunde, der Dächsin Augusta Zwiebel und Maximilian Otter. Auch wie es der Drachendame Luna und ihren Kindern erging, wollte er wissen.
Während Siegbald zähneknirschend seine Fragen beantwortete, nickte er nachdenklich oder gab ein zufriedenes Brummen von sich. Wenn es so weiterging, war das Badewasser sicher eiskalt bis Siegbald wieder allein war. Erst, als der Riese seinen Tee ausgetrunken hatte, rückte er damit heraus, was ihn hergeführt hatte.
„Der König will dich sehen, Sockenloch“, grollte er.
„König Robert? Mich? Aber wieso denn?“
Leichte Besorgnis mischte sich in Siegbalds Tonfall. Zwar glaubte er nicht, dass er sich etwas zu Schulden hatte kommen lassen, aber sein Ruf im Königsschloss war von Anfang an nicht der Beste gewesen. Dass er geholfen hatte, das Magische Zentrum Aequipondiums wieder zu stabilisieren, mochte die Meinung des Königs etwas verbessert haben, doch andererseits hatte er auch versucht, über das Meer zu fliehen und die Entdeckung des Gegengewicht-Kontinents in Europa bekannt zu machen. Alles in allem war Siegbald in den letzten Monaten zufrieden gewesen, vom König und den anderen wichtigen Persönlichkeiten Aequipondiums weitgehend ignoriert zu werden.
„Geht mich nichts an“, grollte der Riese. „Aber du sollst dich so schnell wie möglich bei seinem Haus unter dem Zahnstein blicken lassen.“
„Unter dem Zahnstein?“ echote Siegbald verwundert. „Wieso nicht im Schloss?“
Herr Heinzel musterte ihn nachdenklich. „Ich an deiner Stelle würde mich lieber auf den Weg machen, anstatt hier unnütze Fragen zu stellen.“
„Wie? Du meinst, sofort? Noch heute? Aber der Zahnstein ist doch viel zu weit, um heute noch hinzukommen.“
Siegbald warf einen zweifelnden Blick aus dem Fenster, so dass er den von der tief stehenden Nachmittagssonne goldgelb gefärbten Waldrand sehen konnte.
Der Riese erhob sich schwerfällig, trug seine Tasse zur Anrichte und, nachdem er sie sorgfältig abgespült hatte, stellte er sie zurück ins Regal.
„Ist deine Sache. Ich bin nur der Überbringer der Nachricht“, grollte er. Dann wandte er sich zur Tür. „Ich mache mich jetzt jedenfalls auf den Rückweg und übernachte in Landsby.“
„Warte“, rief Siegbald ganz automatisch.
Der Riese betrachtete ihn abwartend, während Siegbalds Gedanken rasten. Natürlich musste er zum König. Aber konnte er denn überhaupt hier weg? Theolinde war unterwegs und auch Johannes würde frühestens morgen zurückkehren. Wo Augusta Zwiebel sich rumtrieb, wusste Gott allein. Somit war es an Siegbald, sich um das Haus zu kümmern. Andererseits gab es eigentlich nicht viel, um dass er sich kümmern musste und schließlich ließ man einen König nicht warten.
„Ich zieh mir nur rasch etwas an und schreibe Theolinde eine Notiz“, verkündete er das Ergebnis seiner Überlegungen.
Ehe Herr Heinzel antworten konnte, war der Entdecker bereits zur Tür hinaus und hinauf in sein Zimmer geeilt.
Als sie nur zehn Minuten später den Weg durch den Dolchwald nahmen, dachte Siegbald mit vager Befriedigung, dass ihm so zwar sein Bad entgangen war, er sich andererseits aber auch vor der Aufgabe drücken konnte, das gebrauchte Badewasser zu entsorgen. Außerdem gab es in Landsby vielleicht etwas Besseres zum Abendessen, als ein weiteres Mal gebratene Riesenzucchini. Auch wenn er Theolinde liebte, wünschte er sich manchmal ein wenig Abwechslung von ihrer Vorliebe für einfache und schnelle Riesengemüsegerichte.
2 Unter dem Zahnstein
Als Siegbald am darauffolgenden Nachmittag das kleine Haus von König Robert im Schatten des Zahnsteins erreichte, war sein Kopfweh beinahe verflogen. Es war seltsam gewesen, aber bei den Wikingern in Landsby schien Siegbald fast so etwas wie eine Legende zu sein. Dabei hatte er sie bisher nur ein oder zwei Mal besucht und kannte sie eigentlich kaum. Er hatte keine Ahnung, ob er seinen Ruf dem alten Gunnar zu verdanken hatte, mit dem er in Rüblingen einen Schaukampf gegen Drachendame Luna ausgefochten hatte, oder ob es an seinem Besuch in Walhalla lag. Doch davon konnte nur der französische Entdecker La Pérouse oder einer aus dessen Mannschaft berichtet haben, denn Theolinde hatte er nicht viel davon erzählt.
Was auch immer der Grund war: Die Wikinger hatten seine Anwesenheit genutzt, um ein rauschendes Fest zu feiern. Der Met war in Strömen geflossen und nicht einmal die eher fade Küche aus Spinatstrudel und Riesenapfelkuchen konnte irgendwem die Laune verderben.
Beim Essen fragte Siegbald sich, ob die Wikinger, wie die meisten Aequipondier, die er getroffen hatte, aus Prinzip kein Fleisch aßen, oder ob sie nur darauf verzichteten, weil Siegbalds Freundin Theolinde Taubenfuß so eine vehemente Schützerin aller lebenden Kreaturen war.
Herrn Heinzel hatte Siegbald in Landsby zurückgelassen. Der Riese befand, er hatte keinen Grund, trotz seines Brummschädels bereits am Morgen weiterzuziehen. So war Siegbald allein in Richtung Hauptstadt gewandert.
Schon von weitem war der backenzahnförmige Fels zu erkennen, der sich auf seinen drei „Zahnwurzeln“ hoch über die Landschaft erhob und auf dessen „Kaufläche“ sich Schloss Oberzahnstein befand. Am Fuße des Zahnsteins breitete sich das Dorf Unterzahnstein aus und auf der anderen Seite, im Schatten des Zahnsteins, befanden sich ein kleiner See und das Sommerhaus des Königs.
Sommerhaus war eigentlich eine viel zu großzügige Bezeichnung für die schäbige Holzhütte, die dem König als Platz für seine weniger royalen, schmutzigeren Beschäftigungen diente. Oh, es war keineswegs ein Liebesnest. Im Gegenteil: Hier verbrachte der König seine Zeit beim Angeln, mit der Schweinezucht oder bei der Gartenarbeit. Warum er Siegbald ausgerechnet hier empfangen wollte, wo er doch ein großzügiges und hübsches Schloss ganz in der Nähe hatte, war Siegbald ein Rätsel. Vielleicht versuchte er, heimlichen Lauschern auszuweichen oder dem Hoftratsch zu entkommen.
Ja, das wird es sein, entschied Siegbald. Doch warum der König ausgerechnet mit Siegbald Geheimnisse zu besprechen hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.
„Hallo?“
Siegbald klopfte an die Tür des Häuschens, aber es schien niemand zuhause zu sein. Eben wollte er sich abwenden und es doch oben im Schloss versuchen, da hörte er das Quietschen einer Gartentür.
„Oh, guten Tag, Herr Sockenloch. Ihr seid schon hier? Prächtig, prächtig. Dabei hatte ich Euch nicht vor morgen erwartet.“ Der alte Mann rieb sich zufrieden die Hände und strahlte über das ganze Gesicht.
„Majestät.“ Siegbald neigte höflich den Kopf.
Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte die Gestalt, die in Strohhut, Bauernkittel und groben Hosen angetan war, für einen Gärtner gehalten. Auch die schmutzigen Hände und die erdigen Flecken an den Knien machten es nicht besser.
„Kommt. Ich will Euch etwas zeigen“, forderte der König ihn auf und winkte ihn in Richtung der Gartentür.
Zögernd folgte Siegbald ihm. Er hatte sich zwar längst daran gewöhnt, sich nicht mehr zu jeder Mahlzeit umzukleiden, doch für die Audienz beim König hatte er sich doch ein wenig herausgeputzt. Der Entdecker hatte wenig Lust, seine letztes gutes Justaucorps zu beschmutzen, um gemeinsam mit seiner Majestät im Kompost zu wühlen.
Er hätte sich jedoch nicht sorgen müssen, denn König Robert hielt das Objekt, das er ihm zeigen wollte, bereits in der Hand, als Siegbald durch das Gartentor trat.
„Was haltet Ihr davon?“ fragte er.
Skeptisch betrachtete Siegbald das Gemüse, das der König in der Hand hielt. War das ein Scherz? Machte sich der König etwa über ihn lustig? Doch ein Blick ins Gesicht des Monarchen zeigte ihm nichts als ehrliche Begeisterung.
„Eine Karotte“, stellte Siegbald fest.
König Robert nickte. „Aber nicht irgendeine Karotte. Dies ist eine Wichtelwurzel. Findet Ihr nicht auch, dass sie genau aussieht wie ein Wichtel?“ Erwartungsvoll blickte er zu Siegbald auf.
Tatsächlich hatte sich die Wurzel im harten Boden des Gartens mehrfach geteilt, sodass mit ein wenig Fantasie eine menschenartige Figur zu erkennen war, mit zwei längeren Wurzeln für die Beine und zwei weiteren, die Arme sein mochten.
„Ähm, ja. Ja, durchaus“, bestätigte Siegbald schließlich. Je schneller sie diese Posse hinter sich brachten, desto besser.
Zufrieden ließ der König seine Zucht wieder in der weichen Erde verschwinden. „Ich habe eine neue Leidenschaft“, gestand er dabei. „Wir werden in diesem Jahr einen Kreaturen-Karotten-Wettbewerb veranstalten. Und ich habe die feste Absicht, ihn zu gewinnen.“
Siegbald zögerte. „Was ist mit dem Riesengemüsewettbewerb?“ fragte er.
Der König winkte ab.
„Riesengemüse hat in Wirklichkeit keine Zukunft“, stellte er fest. „Der kulinarische Wert ist begrenzt und auch, wenn man damit die Hungrigen speisen kann, so ist eine baumstammdicke Stange Porree doch einfach zu viel für einen Haushalt, in dem nur noch eine alte Frau oder ein ältliches Ehepaar lebt. – Hast du gewusst, dass die Wichtel einen Ruderwettbewerb geplant haben, bei dem sie ausgehöhlte Riesenzucchini als Boote verwenden wollen? Einige Exemplare dieser Kürbisfrucht werden inzwischen so groß, dass auch Goblins und sogar Menschenkinder antreten wollen.“ Der König schüttelte traurig den Kopf. „Wenn das die Achtung ist, die die Jugend vor unseren wertvollen Agrarprodukten hat, so sollten wir auf die Zucht von Riesengemüse künftig wohl verzichten.“
Ein schelmisches Funkeln trat in seine Augen. „Außerdem sind Karottenkreaturen viel amüsanter. Hast du gewusst, dass Dr. Fry angeblich eine hat, die aussieht, wie ein Einhorn? Nein? Aber ich werde ihn schlagen. Ich arbeite an einem Exemplar, das das Gesicht von Amalberga hat.“
Bei dem Gedanken an ein Gemüse, das das Gesicht der gestrengen Oberhexe zeigte, bekam Siegbald eine Gänsehaut. Trotzdem bemühte er sich um ein aufmunterndes Lächeln und nickte dem König zu.
„Aber das ist doch sicher nicht der Grund, aus dem Ihr mich hergerufen habt. Oder?“ fragte Siegbald in dem verzweifelten Versuch, weiteren leidenschaftlichen Ergüssen über den Anbau von ornamentalem Gemüse zu entgehen.
Das Gesicht des Königs, eben noch vom Strahlen des wahren Enthusiasten erfüllt, wurde ernst.
„Leider nein. Aber vielleicht folgt Ihr mir besser ins Haus.“
Das Innere des Häuschens war, wie auch sein Äußeres, recht einfach gehalten. Man könnte auch sagen: primitiv. Es gab zwei Räume, von denen der größere als Wohnstube, Küche und Werkstatt in Einem zu dienen schien, während der andere wohl der Schlafraum war.
Nachdem er die Tür hinter Siegbald geschlossen hatte, füllte der König zwei Tonbecher aus einem mit einem Tuch abgedeckten Krug, der auf der Anrichte stand. Er drückte Siegbald einen der Becher in die Hand und ließ sich dann ächzend auf einem der Küchenstühle nieder. Mit einer Geste bedeutete er dem Entdecker, sich ebenfalls zu setzen.
Während Siegbald darauf wartete, dass König Robert endlich zur Sache kam, schnupperte er misstrauisch an seinem Becher. Überraschenderweise enthielt der nichts anderes als Apfelsaft. Wie er den König kannte, war es vermutlich ein Riesenapfelsaft. Vielleicht nicht die schlechteste Wahl, überlegte Siegbald und dachte an seinen Kater von letzter Nacht. Wobei ihm eine Tasse Kaffee oder wenigstens ein starker schwarzer Tee bedeutend lieber gewesen wäre.
„Wenn Ihr Hunger habt, es ist noch Riesenbohneneintopf da. Amelia hat ihn gekocht.“
Siegbald, dem eben erst aufgefallen war, wie hungrig er nach der Wanderung von Landsby nach Unterzahnstein eigentlich war, zögerte. Zwar könnte er etwas zu Essen vertragen. Aber ein Riesengemüsegericht, das die launische und verwöhnte Tochter des Königs gekocht hatte, das schien ihm nicht geheuer.
„Esst Ihr auch etwas, Majestät?“
König Robert verneinte. „Ich habe es probiert. Aber ich fürchte, mein alter Magen ist nicht robust genug dafür.“
Siegbald nickte verständnisvoll. „In dem Fall fände ich es unhöflich, allein vor euren Augen zu essen.“
„Wie Ihr wollt.“
Nachdem der König Siegbald eine Weile nachdenklich betrachtet hatte, fragte er: „Habt Ihr von den Aufständischen gehört?“
Der Entdecker riss überrascht die Augen auf. „Es gibt Aufstände? Weswegen? Und wogegen überhaupt?“
„Ihr wisst also nicht, wer die Aufständischen sind?“
Siegbald schüttelte den Kopf.
König Robert seufzte. „Das hatte ich befürchtet. – Nun, dann wird Euch dies wohl einigermaßen überraschen.“
Er griff in seine Tasche und zog eine zerdrückte Pergamentrolle hervor, die er über den Tisch schob.
„Lest!“, forderte er Siegbald auf und deutete auf das Pergament.
Der Entdecker nahm die Rolle und begann mit wachsendem Erstaunen zu lesen.
An den Tyrannen,
Wir, die Aufständischen, fordern, dass König Robert mit sofortiger Wirkung die Krone niederlegt. Fortan soll Siegbald unser König sein.
Eine Weile versuchte er, auch die letzte Zeile des Schreibens zu entziffern. Schließlich gab er auf und zeigte sie dem König. „Was bedeutet dies hier?“
Der Alte kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, worauf Siegbald deutete. Dann nickte er.
„Meine Sehkraft ist leider auch nicht mehr das, was sie mal war“, entschuldigte er sich. „Aber meine Frau hat bessere Augen als ich. Sie meinte, da steht ‚Die Fleischfresser-Liga‘ – was auch immer das sein mag.“
Siegbald nickte nachdenklich. Als er sich dessen bewusst wurde, hörte er damit auf. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Aber das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Was ist diese Fleischfresser-Liga? Warum soll ich auf einmal König sein? Und wie kommt Ihr überhaupt darauf, dass ich gemeint bin. Vielleicht gibt es ja noch einen anderen Siegbald in Aequipondium.“
König Robert zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe es auch nicht. Und dass sie mich einen Tyrannen nennen, finde ich ausgesprochen verletzend. Ihr seid auch nicht unbedingt meine erste Wahl, aber die anderen Kandidaten haben abgelehnt. Und es lässt sich nicht leugnen, dass Ihr es in den letzten Monaten zu einiger Bekanntheit gebracht habt. Ich muss also davon ausgehen, dass tatsächlich Ihr gemeint seid. Dass Ihr selbst auch nichts davon wusstet, ist bedauerlich, lässt sich aber nicht ändern.“
Er zögerte einen Moment, während dem er Siegbald nachdenklich musterte. Schließlich seufzte er und griff in die Tasche seines Bauernkittels.
„Wie dem auch sei. Am besten, wir bringen es einfach hinter uns.“ Er zog ein etwas verbogenes Gebilde aus Golddraht und kostbaren Steinen hervor und schob es über den Tisch. „Bitte sehr“, sagte er.
Fassungslos starrte Siegbald auf den Tisch. „Aber das ist Eure Krone, Majestät. Ihr wollt mir doch nicht allen Ernstes Eure Krone übergeben. Noch dazu lediglich aufgrund eines dummen Briefes.“
König Robert brachte ein trauriges Lächeln zustande. „Doch, Herr Sockenloch. Genau das habe ich vor. – Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt, ich hatte ohnehin überlegt abzudanken. Mehr Zeit für meine Familie und für die Gemüsezucht. Ihr seid so gut als mein Nachfolger geeignet, wie jeder andere. Vermutlich sogar besser als die meisten. Und wenn es der Wunsch des Volkes oder vielmehr der Aufständischen ist, wieso nicht?“
„Aber das könnt Ihr nicht machen!“ protestierte Siegbald.
Auf einmal wurde das Gesicht des Königs ernst und strahlte beinahe vor royaler Autorität. „Ich kann und ich werde“, verkündete er fest. „Meiner Familie habe ich es bereits gesagt. Bitte gebt meiner Frau und meiner Tochter Amelia noch ein paar Tage Zeit zum Packen. Ich fürchte, insbesondere bei meiner Tochter wird es wohl noch einige Tränen geben, ehe Ihr Eure königlichen Gemächer im Schloss beziehen könnt.“
Stumm betrachtete Siegbald die Krone, die immer noch auf dem Tisch lag. „Und das war es jetzt? Einfach so?“ brachte er schließlich hervor.
Der ehemalige König Robert, der nun wieder einfach Herr Robert König aus Bremen sein wollte, machte eine ungeduldige Handbewegung. „Natürlich nicht einfach so. Ihr bekommt auch noch eine Urkunde, den Schlüssel zur Schatzkammer und so weiter.“
Siegbald sah ihn ungläubig an. „Das ist alles?“
Der König blickte ihn an. „Achso. Ihr meint, wegen der Krönung? Das ist eigentlich nicht nötig. Ich habe nachgelesen. Es ist tatsächlich ganz problemlos möglich, dass ich meine Abdankung unterzeichne und Euch zu meinem Nachfolger ernenne. Wenn Ihr es wollt, könnt Ihr natürlich auch eine Krönungszeremonie haben. Aber Krönungen sind recht teuer und wenn Ihr Euch selbst einen Gefallen tun wollt, solltet Ihr darauf verzichten. Die Schatzkammern sind fast erschöpft.“
Trotz der Absurdität des Ganzen, begriff Siegbald langsam, dass es dem König ernst war. Natürlich konnte alles noch immer irgendein grausamer Scherz sein. Aber wie es aussah, wollte König Robert (Robert König korrigierte sich Siegbald rasch) tatsächlich ihn, Siegbald Odin Sockenloch, zum König von Aequipondium machen. Vollkommen ohne sein Zutun breitete sich ein ungläubiges Grinsen in Siegbalds Gesicht aus. König Siegbald. Seine Majestät Siegbald I, König von Aequipondium. War das nicht der Traum eines jeden Entdeckers: in einem fremden Land zum König ausgerufen zu werden? Und wenn er schon König wurde, sollte er dann nicht auch eine ordentliche Krönungszeremonie bekommen? Schließlich wurde man nur einmal im Leben ein König.
Während Siegbald überlegte, hatte ihn Robert König nicht aus den Augen gelassen. Jetzt nickte er zufrieden. „Ich sehe, Ihr akzeptiert es langsam.“
„Aber…“ Siegbald überlegte, wie er die nächste Frage höflich formulieren konnte. „Aber es gibt doch jede Menge Gold in Aequipondium. Wie kann die Krone da arm sein?“
Robert zuckte mit den Schultern. „Ihr solltet es doch inzwischen wissen, Gold ist hier nicht sonderlich wertvoll. Es stört die Magie.“
„Aber…“ Tief im Hinterkopf des Entdeckers meldete sich ein Gedanke und spiegelte sich in Form eines goldgierigen Glitzerns in Siegbalds Augen wider.
Der Alte musterte ihn nachdenklich. Dann nickte er traurig. „Ihr glaubt, jetzt könnt Ihr nach Europa zurückkehren. Noch dazu als reicher Mann. Nun, vielleicht habt Ihr recht. Es ist Eure Entscheidung. Schließlich seid Ihr jetzt der König. Aber bedenkt, was Ihr Euren Freunden damit antut.“
Mühsam erhob er sich und ging zur Tür. „Nun, ich denke, ich habe Euch lange genug aufgehalten, Euer Majestät. Ich bin sicher, Herr Heinzel oder auch Dr. Fry werden Euch weiterhelfen, solltet Ihr Fragen zum Schloss und zum Königreich haben. Ich werde mich inzwischen wieder meiner Karottenzucht widmen. Wenn Ihr mich wohl entschuldigen würdet.“
Mit der Türklinge in der Hand blieb er noch einmal stehen.
„Ein Rat noch. Ihr solltet befehlen, die Bauarbeiten im hinteren Garten abzubrechen. Ich gehe zumindest davon aus, dass das dortige Projekt für Euch nicht von besonderem Interesse ist.“
Mit diesen Worten verließ Robert König die Hütte und ließ einen vor Erstaunen immer noch sprachlosen Entdecker zurück.
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